Der Altgläubige von Augsburg

Bischofsversammlung der Altgläubigen in Moskau
Die Hierarchen der Altgläubigen-Kirche

Die außerordentlich frommen Altgläubigen sind sicherlich eine der bemerkenswertesten Minderheiten in Russland. Im Vergleich mit ihnen ist die russisch-orthodoxe Kirche eine durch und durch neumodische Organisation. Wer als Journalist Kontakt mit der Altgläubigen-Kirche aufnahm, bekam zumindest einen flüchtigen Eindruck davon...  
 

Moskau (Februar 2004). Wir fielen sofort auf, als wir die überfüllte Kathedrale am östlichen Stadtrand Moskaus betraten. Daniil und ich waren die einzigen beiden erwachsenen Männer ohne wallenden Vollbart. Seit fünf Stunden schon dauerte der Gottesdienst, mit dem die russischen Altgläubigen die Wahl ihres neuen Metropoliten feierten. Wir hatten uns unter die Gemeinde gemischt und spürten sofort, dass die anderen Männer uns etwas erstaunt anblickten.

Kaum eine andere christliche Gemeinschaft beharrt so penibel auf allen uralten Riten der Orthodoxie wie die russische Altgläubigen-Kirche. Im 17. Jahrhundert hatten sie sich nach der Kirchenreform des Patriarchen Nikon von der russischen Staatskirche abgespalten. Dass das Kreuzzeichen mit drei anstelle mit zwei Finger geschlagen werden sollte, dass in der Liturgie drei statt zwei Hallelujahs erklangen — diese und andere Änderungen erschienen den Altgläubigen als Teufelszeug. Sie flohen nach Sibirien, ließen sich hinrichten, aber sie gaben ihre alten Rituale nicht auf.

 

Die russische Altgläubigen-Kirche besaß zweifellos einen enormen Prozentsatz schillernder Persönlichkeiten. Aber einer war selbst für Altläubigen-Verhältnisse so kurios, dass die Religions-Beilage der Moskauer Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" unbedingt ein Interview mit ihm führen wollte: Michael Herzog, der erste Ausländer, dem in der Geschichte je von den Altgläubigen ein ganzes Bistum anvertraut wurde — als "Bischof Ambrosius von Augsburg, ganz Deutschland und der Baltischen Länder". Da Ambrosius nicht gut genug Russisch sprach, hatte die  hatte die Redaktion mich um Hilfe gebeten. Ich sollte das Interview auf Deutsch führen.

Evangelisch, katholisch, orthodox

Herzog hatte eine durchaus bemerkenswerte religiöse Suche hinter sich. Als Protestant geboren, trat er zunächst zur katholischen Kirche über. Später wurde er orthodox. Bei den griechischen Altkalendariern, einer von der Griechischen Orthodoxie abgespaltenen Kirche, wurde er sogar zum Bischof geweiht. Schließlich kam er zu dem Ergebnis, die wahre christliche Kirche habe sich nur bei den russischen Altgläubigen erhalten, konvertierte ein weiteres Mal und war bald erneut Bischof.

 

Daniil von der Zeitungsredaktion hatte unser Treffen für 12 Uhr vereinbart, aber auch um 13 Uhr dauerte der Dank-Gottesdienst immer noch an. Grund dafür gab es genug: Bei der Wahl des neuen Metropoliten waren die Altgläubigen zuvor gerade noch einer weiteren Kirchenspaltung entgangen. Aber auch nach dem Ende der Messe lief der deutsche Bischof zunächst an uns vorbei, würdigte uns keines Blickes und segnete stattdessen lieber die Gläubigen, die sich ehrfürchtig um ihn herum scharten.

 

Die "Nesawissimaja Gaseta" hatte mich vorgewarnt, dass ich etwas mehr Zeit mitbringen müsse, wenn ich mich mit den Altgläubigen befassen wollte. Die Mitglieder dieser Kirche hätten in der Regel ein Zeitverständnis, dass von dem der "gewöhnlichen" Russen etwas abweiche. Das war nicht übertrieben. Kaum hatten wir Herzog schließlich zur Seite genommen, kam ein Mitarbeiter der Kirchenverwaltung, erklärte, der Metropolit wolle mit dem Bischof reden, worauf der Deutsche aufstand und wieder verschwand.

 

Lobgesänge auf das neue Kirchenoberhaupt

Wir vertraten uns eine Weile frierend die Füße auf dem verschneiten Kirchhof, bis die Altgläubigen uns freundlich zu ihrem Festbankett einluden, dass sie zu Ehren des neu gewählten Metropoliten Andrian ausrichteten. An langen, gedeckten Tischen saßen alle Teilnehmer der Kirchenversammlung. Auf den Tischen standen Salate, eingelegte Gemüse, Kartoffeln, Fleisch und Wodka. Jede Minute stand ein anderer bärtiger Mann auf und stimmte mit tiefer Bassstimme einen Lobgesang auf Andrian an. Alle anderen erhoben sich dann von den Bänken und wünschten ihrem neuen Oberhaupt "viele, viele Jahre" segensreicher Tätigkeit. In dem Festsaal herrschte eine eigentümliche Atmosphäre, allerdings war vor lauter Lobsängen an das Essen kaum noch zu denken. Das Bankett zog sich immer weiter in die Länge.

 

Es war schon dunkel, als wir uns nach knapp fünf Stunden endlich im Gästehaus der Kirche mit dem deutschen Bischof zusammensetzen konnten. Wir sollten in einer Art Mönchszelle auf ihn warten, in der er für die Zeit der Kirchenversammlung untergekommen war. Die Mitarbeiter der Kirchenverwaltung hatten uns vorher instruiert, den Bischof auf jeden Fall mit "Eure Eminenz" anzusprechen. Außerdem, erklärten sie, habe Ambrosius eigentlich gar keine Lust auf ein Interview. Wir sollten ihm am besten Fragen zu seinen Lieblingsthemen stellen, etwa über sein persönliches Verhältnis zum Begründer der Altgläubigen-Bewegung, dem Protopopen Awwakum, schlugen die Kirchenleute vor. Vielleicht würde er darauf antworten. Aber eigentlich war das ganz und gar nicht das, was uns an dem seltsamen Bischof interessierte.

 

Keine Zeit für Kontakte zu anderen Kirchen

Herzog, ein hochgewachsener Fünfzigjähriger, trug einen langen, grauen Vollbart, runden Brillengläsern und einen nach mittelalterlichen Vorbildern selbst entworfenen Bischofsumhang. Der Bischof wollte weder über den heiligen Begründer der Altgläubigenkirche, noch über seine eigene deutsche Gemeinde sprechen. Nur mit Mühe gelang es uns, überhaupt einige Worte aus dem in Österreich geborenen Kirchenhierarchen herauszubekommen.

 

"Über die Zahl ihrer Mitglieder reden die Altgläubigen selten oder nie", orakelte er beispielsweise. Wahrscheinlich war es ihm zu peinlich, die Zahlen — wenige dutzend Seelen in ganz Deutschland — zu nennen. Kontakte mit anderen Kirchen gebe es nicht, dafür habe er auch "gar keine Zeit", ließ Ambrosius uns wissen. Dass die Altgläubigen in Deutschland überhaupt nicht auffindbar seien, es weder einen Telefonbucheintrag noch eine Webseite gab, störte ihn nicht. "Wer uns sucht, findet uns auch", lautete seine Devise. 

 

Erleichtert atmete ich auf, als das «Interview» schließlich beendet war. Selten rätselte ich anschließend so sehr, mit wem ich da eigentlich gesprochen hatte. Mit dem Vertreter einer uralten Kirche oder mit deren eigener Karikatur?


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