Er war einer der besten Journalisten, die ich je kannte, mein manchmal bis zum Geht-nicht-mehr anstrengender journalistischer Mentor und ein feiner Kerl. Als Gisbert Mrozek im Mai 2021 starb, bat mich die Moskauer Deutsche Zeitung, ein paar Zeilen über ihn zu schreiben.
Schweren Herzens habe ich zugesagt, denn die Nachricht hatte mir wirklich zugesetzt. Sieben Jahre lang habe ich für Gisberts Presse-Agentur rufo in Moskau gearbeitet - in einem großartigen deutsch-russischen Team, das immer versuchte, deutschsprachigen Lesern Russland mit all seinen Facetten, Umbrüchen und Widersprüchen näherzubringen. Es war eine stressige, wahnsinnig spannende Zeit, die ich nicht missen möchte.
Nicht immer hatten es die deutschen Redaktionen leicht mit Gisbert Mrozek – und er mit ihnen: Mit schusssicherer Weste und schwerem Satellitentelefon war er an die Front aufgebrochen, als im Kaukasus der zweite Tschetschenien-Krieg tobte. Desillusioniert kehrte er von der riskanten Reise zurück - nicht nur wegen seiner Erlebnisse, sondern auch, weil man ihm aus Deutschland mitgeteilt hatte, dass man sein Engagement zu schätzen wisse, er seine Radiostücke künftig aber lieber in Moskau in Studioqualität produzieren solle.
Gisbert Mrozek war ein Vollblutjournalist, und für ihn war immer klar: Ein Korrespondent muss so über die Dinge berichten, wie er sie vorfindet - und nicht so, wie er oder Redakteure in der Heimat sie gerne hätten. Er konnte Interview-Partnern kuriose Aussagen entlocken, war meinungsstark, ein grandioser Analytiker und ein Russland-Versteher im besten Sinne des Wortes - lange, bevor der Begriff von manchen zum Schimpfwort umgedeutet wurde.
1989 hatte er sein großes Abenteuer begonnen, die Stelle beim niedersächsischen Privatradio FFN aufgegeben und war als Korrespondent der Rundfunknachrichtenagentur Rufa in die Sowjetunion
umgezogen. Von dort aus erklärte er den Hörern die Perestroika und schließlich den Untergang der Supermacht. Bald begann der Radiomann, auch für Printmedien zu berichten. Er heiratete seine
Journalisten-Kollegin Natalia Aljakina und gründete mit ihr eine eigene Presseagentur rufo, die zeitweise auch als Korrespondentenbüro für Focus, die Berliner Zeitung und andere Medien fungierte,
Fotos für westliche Medien organisierte und gelegentlich Produktionshilfe für Fernsehvorhaben leistete.
Im Chaos der 1990er Jahre wurde eine der zahllosen russischen Tragödien zu Gisberts persönlichem Drama: Im Juni 1995 brach er gemeinsam mit seiner Frau nach Budjonnowsk auf, wo der tschetschenische Warlord Schamil Bassajew in einem Krankenhaus über 1.000 Geiseln in seine Gewalt gebracht hatte. Das Taxi der beiden Korrespondenten hatte gerade eine russische Straßensperre am Stadtrand passiert, als es von mehreren Schüssen aus einem Maschinengewehr getroffen wurde. Tödlich verwundet verblutete Natalia Aljakina auf dem Rücksitz. Mehrere Jahre kämpfte er, der deutsche Korrespondent, durch die Gerichtsinstanzen für eine Verurteilung des Todesschützen. Der Fall wurde zum Politikum, doch der junge Soldat erhielt lediglich eine unbeträchtliche Bewährungsstrafe. Nach offizieller Lesart hatte sich die Salve versehentlich gelöst.
Andere Ausländer hätten Russland nach einem derartigen Schicksalsschlag wohl für immer verlassen. Gisbert aber blieb. Und Russland wurde ihm immer mehr zur Heimat. Im Winter tauchte er am Epiphanias-Tag in Eislöcher, und in der rufo-Redaktion am Weißrussischen Bahnhof in Moskau wurde Russisch zur Umgangssprache – selbst bei Redaktionssitzungen, bei denen wir irgendwann verwundert feststellten, dass eigentlich gerade nur Deutsche am rustikalen Besprechungstisch saßen. Und kaum ein deutscher Korrespondent in der russischen Hauptstadt war so gut vernetzt. Egal, ob Regierungsfunktionär oder Avantgarde-Künstler - gefühlt kannte Gisbert jeden, der etwas zu sagen hatte.
Nach der Jahrtausendwende startete schließlich das Projekt, das ihm womöglich am meisten bedeutete: Eine Internet-Zeitung in deutscher Sprache, die ohne Klischees und Schönfärberei (aber auch ohne Schwarzmalerei) so über Russland berichtete, wie wir - die deutsch-russische Redaktion das Land erlebte. Und wo auch die Geschichten erscheinen konnten, die uns deutsche oder Schweizer Zeitungen nicht abkauften. Zu diesem Zeitpunkt kam ich ins Spiel und stieß als Online-Redakteur zum Team. Anfangs unter dem Namen „Moskau.ru“ ins Netz gestellt, etablierte sich das Portal schließlich unter der Marke „Russland aktuell“. Bald gab es sogar Außenstellen in Sankt Petersburg und Kaliningrad.
Interne Querelen führten nach einigen Jahren zur Gründung eines Konkurrenz-Projekts, und auch finanziell gelang es nie, die Online-Zeitung stabil auf eigene Beine zu stellen. Zwar konnten wir lange fortlaufend neue Besucherrekorde verbuchen, aber das Leserinteresse in Rubel umzumünzen, war schwieriger als wir erwartet hatten. Den eigenen hohen Ansprüchen tat das aber lange keinen Abbruch: Bei möglichst jeder deutschen Party in Moskau sollten die Berichte von „Russland aktuell“ Gesprächsstoff sein, auf jeder wichtigen Pressekonferenz ein Mikro mit dem Zeitungslogo platziert sein – so lautete das selbst gesteckte, ambitionierte Ziel.
Von Gisberts Enthusiasmus, seinen Ideen und seinem Wagemut profitierten gerade in diesen Jahren zahlreiche deutsche und russische
Journalisten, für die rufo zum Sprungbrett wurde. Bewerber um einen Praktikumsplatz oder einen Job als freie Mitarbeiter bekamen von ihm nämlich so gut wie nie eine Absage. Wer sich
von der durchaus ernstgemeinten Devise „minimale Honorare, maximaler Stress“ nicht abschrecken ließ, hatte einen Arbeitsplatz – und mit etwas Glück auch eines der heiß begehrten
Akkreditierungskärtchen des russischen Außenministeriums. Nicht alle kamen mit seiner zuweilen ruppig-kantigen Art klar, aber manche blieben viele Jahre.
Den Machern von „Russland aktuell“ ging irgendwann der Atem aus, seit 2016 wird die Seite nicht mehr aktualisiert. Auch die Entfremdung zwischen Mrozek und den deutschen Redaktionen wurde mit den
Jahren größer. Denn bei manchen Themen teilte Gisbert nicht mehr das Narrativ der deutschen Leitmedien. Die Rufa, mittlerweile von der dpa übernommen, beendete mitten in der Ukraine-Krise nach
über 25 Jahren die Zusammenarbeit, und Gisberts Agentur rufo mit O verlor ihren wichtigsten Kunden.
Der Journalist verbrachte seine Zeit seither vorwiegend in einem kleinen Dorf in den Wäldern der idyllischen Waldai-Höhen, wo er mit seiner zweiten Frau sein einstiges Wochenendhaus zu einem
Bio-Bauernhof ausbaute. Seinen Schafen und Hühnern widmete er sich mit der gleichen Begeisterung wie früher den Politik-Skandalen im fernen Moskau. Noch im Frühjahr hatte er Besuch von einem Kamerateam des Regionalfernsehens aus
Nowgorod (Youtube-Video Russisch). „Das hier ist das echte, vollwertige Leben. Mit Computer und Smartphone am Schreibtisch herumzusitzen – das ist einseitig“, erklärte er gut gelaunt der
Reporterin. Gisbert Mrozek starb am 11. Mai völlig unerwartet auf seinem Bauernhof. Er wurde 70 Jahre alt.
Und er hinterließ viele, die sich zu Lebzeiten oft an ihm rieben, ihm aber auch viel verdanken. Und manche, so auch ich, raufen sich jetzt die Haare, dass sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft haben, ihn einmal auf seiner Farm zu besuchen.