"Und lesen Sie, Gott behüte Sie, vor dem Mittagessen nie sowjetische Zeitungen."

  Professor Filipp Preobrashenski in "Hundeherz" von Michail Bulgakow (1891-1940)

 

 

Schlechte Quellenlage: Gibt es noch Journalismus in Russland?

Unabhängiger Journalismus hatte es in Russland immer schwer. So, wie es aussah, sind in den Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine auch die letzten altbekannten regimekritischen Stimmen verstummt. Tatsächlich ist die Lage seit dem bleiernen Frühjahr 2022 finsterer denn je. Nun stellt sich die Frage, welche journalistischen Quellen es überhaupt noch aus einem Land gibt, in dem die Medienlandschaft so nachhaltig zerstört worden ist. Erstaunlicherweise gibt es zumindest im Netz noch immer einige interessante journalistische Projekte, die ich hiermit gern empfehle. 

Online oft gesucht: Nachrichten ohne... Lügen und Propaganda
Online oft gesucht: Nachrichten ohne... Lügen und Propaganda

Noch in den Anfangsjahren der Putin-Ära gab es einige hervorragende Zeitungen und vor allem eine Reihe exzellenter Internet-Magazine. Selbst westliche Russland-Korrespondenten verzichteten gern auf eigene Recherchen und schrieben ihre Geschichten bei diesen kritischen Medien ab.

Sie alle gerieten im Lauf der Jahre immer stärker unter Druck. Während der vergangenen zehn oder mehr Jahre vertrauten an Russland interessierte Menschen im Westen einer kleinen Anzahl russische Medien, insbesondere der mittlerweile verbotenen Moskauer "Nowaja Gaseta" dem aufgelösten Radiosender "Echo Moskaus" und dem abgeschalteten und ins Exil gezogenen Internet-TV-Sender "Doschd". Auch ich habe mich dort informiert, obwohl ich längst nicht alles großartig fand, was dort gesendet und veröffentlicht wurde. 

Alle in Russland verbliebenen Medien sind akut von Zensur und Verbot bedroht, speziell, wenn sie über die Ukraine berichten. Wer unter diesen Umständen überleben will, muss täglich weitgehende Kompromisse schließen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht automatisch, dass es in allen russischen Medien nur noch plumpe Propaganda wie beim Staatsfernsehen gibt. In der Zeitung "Kommersant", den Berichten der Agentur RBK und Online-Medien wie dem etablierten Petersburger Portal "Fontanka" finden sich durchaus noch immer interessante journalistische Texte.

 

Ein Teil der noch verbliebenen unabhängigen Redaktionen ist mittlerweile ins Exil gegangen, was sie einerseits vor staatlicher Verfolgung schützt, aber andererseits den Zugang zu Quellen erschwert. In vielen Fällen haben standhafte Journalisten und Medienmacher von der russischen staatlichen Medienaufsicht Roskomnadsor auch das diffamierende Label "Ausländischer Agent" erhalten, was sie in der Regel ihrer Werbekunden beraubt. Sie können fast nur noch auf den großen sozialen Netzwerken publizieren. Vor allem Youtube spielt hierbei eine wachsende Rolle, obwohl es die Möglichkeiten russischer Autoren stark eingeschränkt hat, mit ihren Inhalten etwas zu verdienen. Die meisten Medienprojekte nutzen auch andere Ausspielwege, vor allem Telegram. 

Also: Was lohnt sich noch zu lesen und anzuklicken?


Редакция

Redakzija / "Die Redaktion"

Ein Team um den ehemaligen NTW-Journalisten Alexej Piwowarow hat sich das Ziel gesetzt, russischen Nachrichtenjournalismus auf Youtube zu etablieren. Das Projekt startete 2019 mit Unterstützung des privaten russischsprachigen Auslands-Fernsehsenders RTVI, für den Piwowarow bis dahin tätig war. "Die Redaktion" produziert aufwendige Video-Dokus, Interviews und derzeit einen wöchentlichen Nachrichtenrückblick. 



Screenshot Faridaily
Screenshot Faridaily

Faridaily

Einen exzellenten Blog mit Analysen und Hintergrundtexten zur politischen Situation in Russland betreibt die Journalistin Farida Rustamowa. Sie veröffentlicht ihre Texte auf Russisch und Englisch. Anders, als die Eigenbezeichnung des Blogs andeuten könnte, gibt es nicht täglich neue Inhalte, aber alles was Rustamowa schreibt, lohnt die Lektüre. Als Mitarbeiterin des russischsprachigen Dienstes der BBC hatte die Journalistin bereits 2018 einen auch international beachteten Skandal um den einflussreichen Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki (LDPR) ins Rollen gebracht, dem mehrere Parlaments-Korrespondentinnen damals sexuelle Übergriffe vorwarfen. Rustamowa hatte Sluzkis schmierige Bitten, sie solle doch seine Gebliebte werden, sogar auf ihrem Diktiergerät aufgenommen. Für den Politiker blieb die Geschichte damals dennoch weitgehend folgenlos.



Медуза

Meduza

Das vom lettischen Riga aus produzierte Online-Magazin "Meduza" bietet derzeit vermutlich von allen unabhängigen russischsprachigen Medien die umfangreichste aktuelle Berichterstattung. Das Portal entstand 2014, als ein Großteil der Journalisten der einst lesenswerten Online-Zeitung Lenta.ru mitsamt Chefredakteurin Galina Timtschemko nach einem Eigentümerwechsel aus der Redaktion ausschied. Zum Team gehört auch der Moskauer Investigativ-Reporter Iwan Golunow, dem 2019 bei einer Festnahme Drogen untergeschoben worden waren, der aber nach einer landesweiten Solidaritätskampagne wieder frei kam. Bereits im Frühjahr 2021 wurde "Meduza" von den russischen Behörden ohne Angabe detaillierter Gründe zum "Auslandsagenten" erklärt.



Skashi Gordejewoi - Youtube-Kanal
Screenshot von Gordejewas Youtube-Kanal

"Скажи Гордеевой"

"Skashi Gordejewoi" / "Erzähl es Gordejewa"

Zugegeben, in Kriegs- und Krisen-Zeiten, in denen alle gebannt auf die Live-Kurznachrichten-Ticker der Nachrichtenportale starren, scheinen die teils deutlich über einstündigen Interview-Sendungen der Journalistin und Dokumentarfilmerin Jekaterina Gordejewa zunächst wie aus der Zeit gefallen. Trotzdem lohnt es sich zuzuhören, denn die Gesprächspartner der früheren NTW-Korrespondentin haben etwas zu sagen. Für alle, die nur schlecht Russisch verstehen, gibt es bei einem Teil der Videos inzwischen englische Untertitel. Die Serie war einst unter dem Dach von "Meduza" gestartet, ist mittlerweile aber ein unabhängiges Projekt.



вДудь

wDudj

Mit über 10 Millionen Abonnenten ist Juri Dudj der Star am Himmel der russischen Youtuber. Der ehemalige Sportreporter hat neben zahlreichen Interview-Sendungen auch bereits einige Dokumentarfilme veröffentlicht, darunter eine dreistündige, Aufsehen erregende Dokumentation zum Geiseldrama von Beslan. Sein Interview mit dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nach dem mutmaßlichen Giftanschlag auf den Anti-Korruptions-Aktivisten wurde sage und schreibe 33 Millionen Mal aufgerufen. Zu vielen Videos gibt es englische, teils auch spanische Untertitel.



Дилетант

Diletant / "Der Dilettant"

Wenn ich in den vergangenen Jahren nach Russland kam und auf einen Zeitschriften-Kiosk stieß, habe ich immer zuerst nach dem "Diletant" gesucht. Die Zeitschrift, ein Projekt des langjährigen "Echo Moskaus"-Chefredakteurs Alexej Wenediktow, verzichtet auf tagesaktuelle Berichte und widmet sich voll und ganz historischen Themen. Das ist vermutlich der Grund, warum sie noch existiert. Das lesenswerte Blatt präsentiert sich neuerdings mit einem eigenen Kanal bei Youtube. Seit sein Sender abgeschaltet wurde, zeichnet der frühere Geschichtslehrer Wenediktow vermehrt Talksendungen mit seinen Historiker-Gästen auf. 



"Живой гвоздь"

"Shiwoi gwosdj" / "Lebendiger Nagel"

Das abrupte Aus des Radiosenders "Echo Moskaus" hat dessen Redaktion übrigens nicht ganz verstummen lassen. Das alte Team um Wenediktow sendet inzwischen wieder - dieses Mal im Internet via Youtube und Telegram. Vor allem oppositionell gesonnene Gäste, die auch schon in den vergangenen Jahren regelmäßig in den "Echo"-Studios vor dem Mikrofon saßen, kommen in den Talksendungen zu Wort. 



Screenshot "istories"
Screenshot "istories"

"Важные истории"

"Vashnyje Istorii" / "Important Stories"

Das erst 2020 von dem Investigativ-Journalisten Roman Anin und der Pulitzer-Preisträgerin Olesja Schmagun gegründete Online-Portal "Important Stories" bietet viele exklusive Investigativberichte, aber auch Interviews und einen Nachrichtenticker zum Ukraine-Krieg. Ein Teil der Texte wird auch auf Englisch veröffentlicht. In Russland muss der Zugang zur Webadresse des Internet-Magazins von Providern wegen angeblicher Falschinformationen über den russischen Krieg gegen die Ukraine blockiert werden. Die als Herausgeber fungierende NGO wurde von den russischen Behörden als "unerwünschte Organisation" eingestuft. Die Redaktion befindet sich mittlerweile aus Sicherheitsgründen ebenfalls in Riga.



"Вы слушали радио Маяк"

"Sie hörten Radio Majak"

Und zuletzt: Russlands Staatsmedien und ihre Mischung aus offiziösen Verlautbarungen und böser Propaganda sind eine schwere Kost für ungeübte oder seelisch sensible Zuschauer und Zuhörer. Viele intelligente Russinnen und Russen schalten den "Zombikasten" (Fernseher) bereits seit Jahren gar nicht mehr an, oder nur noch, um sich die Wiederholung guter sowjetischer Spielfilme anzuschauen. Dennoch kann es natürlich nicht schaden, wenn an Politik und Zeitgeschehen interessierte Mensch auch die offizielle Position der russischen Staatsführung und deren Selbstdarstellung kennen. Der Telegram-Kanal "Sie hörten Radio Leuchtturm" filtert die wichtigsten Audio- und Videoschnipsel aus dem Programm heraus.



Stand: April 2022.


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