"Ach Samara, kleine Stadt. Ich bin so unruhig, so unruhig. Mach, dass ich zur Ruhe komme."
Russisches Volkslied
Mit aktuell knapp 1,2 Millionen Einwohnern ist das alte Kaufmannszentrum Samara am Mittellauf der Wolga in den Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution zu einem der wichtigsten Industriezentren in Russland gewachsen. In den Sommermonaten laufen regelmäßig Flusskreuzfahrtschiffe den Hafen der neuntgrößten Stadt Russlands an, stromaufwärts beginnen die Schiguli-Berge und damit der landschaftlich wohl schönste Abschnitt von Europas längstem Fluss. Samara selbst hat einige Sehenswürdigkeiten zu bieten, darunter im Zentrum neben vielen alten Holzhäusern und riesigen Aufmarsch-Plätzen mit Bauten aus der Stalin-Ära auch einen äußerst merkwürdigen Bahnhof, der selbst dann einen Besuch lohnt, wenn man gar nicht Zug fahren will. Eine schier endlose Wolga-Promenade mit erstaunlich gepflegtem Sandstrand lädt zum Bummeln und Baden.
Die Provinzhauptstadt verdankt ihren Namen einem gleichnamigen Nebenfluss der Wolga und wurde Ende des 16. Jahrhunderts als Festung gegründet. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl auf 15.000 gestiegen, Samara entwickelte sich als Zentrum eines Gouvernements zu einem Handelszentrum. Nach der Oktoberrevolution wurde die Stadt zu Ehren des kommunistischen Parteifunktionärs Valerian Kuibyschew umbenannt.
Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion nahm die Bedeutung des Provinzzentrums enorm zu: Etliche Industriebetriebe aus den westlichen Teilen der
Sowjetunion wurden nach Kuibyschew an die Wolga evakuiert. Angesichts des drohenden Falls von Moskau wurden bereits Regierungsbehörden und ausländische Botschaften hierher verlegt, ebenso das Bolschoi Theater und die staatliche sowjetische Filmgesellschaft
Mosfilm. Obwohl auch ein Ausweichregierungssitz für Stalin selbst bereits eingerichtet war, blieb der Diktator vor Ort. Seinen Bunker an der Wolga hat er nie betreten.
In der Nachkriegszeit wurde Kuibyschew zu einem Zentrum der Weltraumindustrie. Unter anderem entstand hier ein Werk zur Herstellung der Progress-Trägerraketen. 1991 erhielt die Stadt ihren alten
Namen zurück.
Wer schon immer einmal in der Wolga baden gehen wollte, hat im Sommer in Samara gute Karten. Am Flussufer zieht sich eine endlose Promenade entlang, dahinter ein feiner und für russische Verhältnisse sauberer Sandstrand. Es gibt Umkleidekabinen, Kinderspielgeräte. Fliegende Händler verkaufen Eis und heiße Maiskolben. Währenddessen fahren auf dem Fluss große Kreuzfahrtschiffe und kleine schnelle Expressfähren vom Typ Meteor vorbei. Die Wasserqualität schien uns akzeptabel zu sein, zumindest hatte niemand von uns nach einem Testbad irgendwelche Beschwerden. Die Uferpromenade wurde in den vergangenen Jahren im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft aufwendig neu gestaltet und kann sich jetzt wirklich sehen lassen.
Der Hauptbahnhof von Samara wirkt auf einen unbedarften Besucher, als hätte ihn eine außerirdische Zivilisation erbaut. Tatsächlich handelt es sich beim höchsten Bahnhofsgebäude Europas um eines der wenigen öffentlichen Neubauprojekte, die mitten in der schweren Umbruchkrise nach dem Zerfall der Sowjetunion geschultert wurden. 1996 wurde der Grundstein für das futuristische 101 Meter hohe Gebäude gelegt, die Arbeiten in Rekordtempo ausgeführt. Ein Sendemast und eine Aussichtsplattform in 95 Metern Höhe krönen den weithin sichtbaren Bahnhofsturm. Samara ist per Eisenbahn nach wie vor mit praktisch allen Teilen Russlands verbunden, außerdem gibt es Direktzüge unter anderem nach Zentralasien. Im und rund um den Bahnhof werden überall Pralinen der örtlichen Süßwarenmarke "Samara" verkauft - das beste Souvenir aus der Stadt.
In der Innenstadt gibt es noch ganze Straßenzüge mit historischer Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert, auch jede Menge alter, teils aufwendig verzierter Holzhäuser gibt es noch in den zentralen Stadtvierteln. Leider machen viele historische Baudenkmäler keinen sonderlich gut gepflegten Eindruck, einige können vermutlich schon nicht mehr restauriert werden. Eine Besonderheit der Stadt sind mehrere riesige Plätze, darunter der Kuibyschew-Platz, der mit 17,4 Hektar Fläche als größter Platz Europas gilt. Hier befand sich bis 1930 die größte orthodoxe Kathedrale der Stadt, die von der kommunistischen Führung 1939 in die Luft gesprengt wurde.
Kaufmannsstadt war Samara bis zur Oktoberrevolution ein recht kosmopolitischer Ort: Aus jenen Zeiten sind eine repräsentative deutsche (evangelische) und eine hübsche polnische (katholische) Kirche erhalten. Ein weiteres Wahrzeichen der Stadt ist das Ende des 19. Jahrhunderts im "pseudorussischen Stil" errichtete Dramentheater mit dem zehn Meter hohen Denkmal für den Bürgerkriegsgeneral Vassili Tschapajew. Eine Kopie des Bronzemonuments wurde wenige Jahre später für Leningrad (heute Sankt Petersburg) gegossen.
Von einem kleinen, fast familiären Beisammensein mit Gitarre und Lagerfeuer mauserte sich das Gruschin-Festival an der Wolga im Laufe der Jahre zu einem riesigen Großevent. Inzwischen treffen sich auf halber Strecke zwischen Samara und Toljatti jeden Sommer über 200.000 junge Leute zu einem riesigen Zeltlager und einer Art "Woodstock der Liedermacher". Auf den Bühnen standen schon alle großen russischen Barden wie Juri Visbor oder Bulat Okudschawa. Längst zieht das Gruschin-Festival auch Besucher aus dem Ausland an.
Seinen Ursprung hat das Festival in den Treffen von Freunden des Studenten Valeri Gruschin, der 1967 ums Leben kam, als er bei einer Bootstour in Sibirien mehrere
Menschen vor dem Ertrinken rettete. Über die Jahre wurde aus dem informellen - und von der Staatsmacht mit Argwohn beobachteten Beisammensein - eine ziemlich kommerzielle Veranstaltung.
Die Hauptattribute Zelt, Gitarre und Lagerfeuer sind aber geblieben. Das Festivalgelände an den Mastrjukowo-Seen ist von Samara aus mit Vorortzügen gut zu erreichen.