"Man sollte Menschen nicht dabei stören, den Verstand zu verlieren."

 

Anton Tschechow (1860-1904), russischer Schriftsteller, in "Krankenzimmer Nr. 6"

 

 

Apocalypse Now

Jewgeni Prigoschins Putschversuch

Panzer der Wagner-Söldner in der  Zirkus-Einfahrt von Rostow am Don
Wagner-Panzer in der Zirkus-Einfahrt von Rostow am Don, Screenshot: Vesti Nedeli

Ehe die Russen begriffen, was sich gerade eigentlich vor ihren Augen abspielte, war Jewgeni Prigoschins Meuterei schon wieder vorbei. Dennoch dürfte der 24. Juni 2023 in die Geschichte eingehen. Bilder, die vor wenigen Tagen wohl noch kaum jemand in Russland für möglich gehalten hätte, gingen um die Welt - der in der Einfahrt zum Zirkus von  Rostow am Don zwischen bunten Zirkusplakaten festgklemmte Panzer, Straßenbaufahrzeuge, die eiligst die Autobahn von Rostow nach Moskau zerstörten, die Verhandlungen des selbstbewussten Söldnerführers mit der bedröppelten Armeespitze  Viele westliche Kommentatoren sahen im Putsch-Versuch von Prigoschins Militärunternehmen "Wagner" ein klares Anzeichen für den nahenden Untergang des Systems Putin. In Wirklichkeit dürfte alles etwas komplizierter sein.

Geschichtlich versierte Beobachter des Geschehens zogen Parallelen zum Moskauer Strelitzenaufstand von 1682 oder zum gescheiterten Putschversuch von Lawr Kornilow gegen die Provisorische Regierung im September 1917, kurz vor der Oktoberrevolution. Mein erster Gedanke war allerdings ein ganz anderer: Marlon Brando. Im Anti-Kriegs-Film "Apocalypse Now", Francis Ford Coppolas grandioser Abrechnung mit den amerikanischen Verbrechen in Vietnam, spielt der Hollywood-Star den US-Colonel Walter Kurtz, der im Dschungel dem Wahnsinn verfallen ist (Film-Infos bei Moviepilot.de). Wahnsinn inmitten des allumfassenden Wahnsinns - anders kann man das Geschehen kaum interpretieren. 

 

Unglaubliche Milde trotz zahlreicher Toter

Seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine reicht es, mit der Losung "Nein zum Krieg" auf der Straße zu stehen, um vor Gericht gestellt zu werden (z.B. Bericht BBC, Russisch). Im Vergleich dazu begegnet Russlands Staatsmacht den gescheiterten Aufständischen der Prigoschin-Truppe mit geradezu atemberaubender Milde. Der Wagner-Chef selbst konnte unbehelligt nach Weißrussland abrücken (möglicherweise nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Afrika, wie u.a. der "Moskowski Komsomolez" spekuliert). Seine Kämpfer sollen wegen ihrer "großen Verdienste" beim Kampf um den Donbass straffrei ausgehen. Am Dienstag stellte auch der Inlandsgeheimdienst FSB seine Ermittlungen ein, denn die Meuterei sei schließlich beendet (Meldung RBK, Russisch).


Dabei lief die Auseinandersetzung alles andere als unblutig ab. 
Der armeenahe russische Telegram-Kanal "Rybar" meldete mindestens 13 tote russische Militärangehörige. "Wagner"-Leute hätten sechs Kampfhubschrauber und ein Il-18-Flugzeug abgeschossen. "Zum Vergleich: Seit Beginn ihrer Gegenoffensive gelang es den ukrainischen Streitkräften nicht, auch nur einen einzigen Abschuss zu erzielen", schrieben die Militärblogger. In Woronesch wurde im Lauf der Meuterei ein Erdöldepot zerstört , auf dem weiteren Weg der "Wagner"-Truppen Richtung Moskau geriet auch die zivile Infrastruktur in Mitleidenschaft (Bericht z.B. bei Gazeta.ru, Russisch). Von den Toten und dem gewaltigen Schaden war in Regierungsverlautbarungen und Staatsmedien allerdings recht wenig zu hören.

 

Noch in seiner Rede an die Nation wenige Stunden zuvor hatte der Präsident etwas ganz anderes angekündigt, nämlich ein hartes Durchgreifen des Staates. Gerade Putins Rückhalt in der Bevölkerung fußt noch immer darauf, dass eine Mehrzahl der Russinnen und Russen an das Chaos der 1990er-Jahren wie an einen bösen Albtraum zurückdenkt. Nun kamen die Bilder der längst überwunden geglaubten Umbruchzeit zurück in die Gegenwart - nicht nur aus der umkämpften Ukraine, sondern aus den eigenen Großstädten. Zweifellos ist dies ein Zeichen der Schwäche des russischen Machtapparats und von Wladimir Putins persönlicher Schwäche.

 

Zusammen mit dem Teufel gegen Putin

 Und trotzdem gilt: Die meisten Russen dürften insgesamt erleichtert gewesen sein über den faulen Kompromiss - zu fürchterlich wären die Alternativen gewesen. Deutlich wurde auch, dass der grobschlächtige "Wagner"-Chef keinen Rückhalt (mehr) in der politischen Elite hat. Absetzbewegungen im Machtapparat oder in der Armee waren nicht zu spüren. Sympathiebekundungen einiger Beifall klatschender Bürger in Rostow am Don bedeuten, anders als verschiedentlich suggeriert, auch noch lange keinen massenhaften Zuspruch.

 

Es blieb bei der Unterstützung durch einzelne prominente Putingegner, die Prigoschin ebenfalls nicht genutzt haben dürften. Der ehemalige Öl-Magnat Michail Chodorkowski etwa hatte dazu aufgerufen, den "Wagner"-Vormarsch nach Moskau aktiv zu unterstützen (Bericht z.B. Moscow Times, Russisch). Um das Putin-Regime zu stürzen, sei es richtig, sich notfalls sogar "mit dem Teufel" zu verbünden.  Das Statement des Exil-Oligarchen sorgte sogar unter Oppositionellen für erstauntes Stirnrunzeln. Schließlich ist es nicht lange her, dass Chodorkowski selbst ein Journalistenteam für Recherchen über "Wagner" in die Zentralafrikanische Republik geschickt hatte, wo die Reporter unter dubiosen Umständen ermordet worden waren (Bericht z.B. beim ORF).

Das Schicksal der "Wagner"-Truppen kann aktuell kaum jemand seriös vorhersagen, ihre schweren Waffen werden sie aber an die regulären Streitkräfte abgeben. Einerseits wird man in Moskau den Kämpfern misstrauen, andererseit wird die russische Staatsführung auf ihre Kampferfahrung im Ukraine-Krieg und bei den zahlreichen Einsätzen in Afrika oder Syrien aber auch nicht ganz verzichten wollen. Prigoschins Aufstieg zu einer politischen Figur dürfte jedoch beendet sein. Dass er im Kampf um das Erbe Putins noch einmal eine wichtige Rolle spielt, ist äußerst unwahrscheinlich.  Ob er seinen Angriff auf das System Putin physisch überleben wird, bleibt fraglich. Ob seine Söldner einfach so akzeptieren, dass jemand anderes künftig dort das Kommando übernimmt, alerdings auch. Für viele der Männer ist der martialisch auftretende Glatzkopf einer von ihnen.

 

Schillernde Laufbahn eines Kriminellen

Zu Beginn seiner Karriere war Prigoschin lediglich ein gewöhnlicher Krimineller, der noch zu Sowjetzeiten unter anderem wegen Raubes und Diebstahls im Gefängnis landete (Meduza-Bericht von 2021, Russisch). Nach dem Ende der UdSSR stieg er dann zu einem schwerreichen Geschäftsmann auf. Sein Catering-Unternehmen blieb nicht die einzige Leidenschaft von "Putins Koch" wie Medien ihn bald nannten. Bekannt wurde er auch als Hintermann der Petersburger "Trollfabrik", aus der sich später ein ganzes Konglomerat aus (Desinformations-)Medien

erwuchs. Dass Prigoschin hinter dem privaten Militärunternehmen "Wagner" steht, wurde von ihm noch vor gar nicht allzu langer Zeit vehement bestritten. Gegen entsprechende kritische Presseberichte ging er gerichtlich vor.

Das änderte sich mit dem Verlauf des Ukraine-Krieges. Immer häufiger zeigte sich der Geschäftsmann selbst an der Front. Die blutigen Schlachten um Soledar und Bachmut (Artjomowsk) kommentierte er in Kampfmontur selbst. Dabei äußerte er seit Monaten mit immer drastischeren Worten seine Wut über die mangelhafte Versorgung seiner "Wagner"-Truppen und die unfähige und korrupte Militärführung. Schließlich erklärte er auch die offizielle Begründung für den russischen Angriff auf die Ukraine zur Lüge. Jeder normale Russen hätte nach einem derartigen Auftritt gute Chancen, wegen "Diskreditierung der Streitkräfte" vor Gericht zu landen, Prigoschin jedoch konnte es sich mit seinen 25.000 hochmotivierten, bis auf die Zähne bewaffneten Privatsoldaten im Rücken herausnehmen. Und bei vielen Russen dürften die Einschätzungen zur miserablen Lage an der Front auch auf Sympathie gestoßen sein.

Das Verteidigungsministerium in Moskau setzte seinerseits Prigoschin zunehmend unter Druck - bis Ende des Monats sollte sein Militärunternehmen sich vertraglich der regulären Armee unterstellen. Offenbar hatte sich in Russlands Führung die Überzeugung durchgesetzt, dass es außerordentlich unklug ist, einem Multimillionär den Aufbau privater Streitkräfte mitsamt Panzern, Artillerie und eigener Luftwaffe zu ermöglichen.

 

Der "Marsch der Gerechtigkeit"

Schließlich holte Prigoschin am 23. Juni zum Befreiungsschlag aus (detaillierte Chronologie der Ereignisse z.B. beim Schweizer Nachrichtenportal Watson oder bei der Nowaja Gaseta, Russisch): Nach dem angeblichen Raketenbeschuss eines "Wagner"-Lagners durch russische Streitkräfte kündigte er einen "Marsch der Gerechtigkeit" an und setzte seine Truppen in Bewegung - dieses Mal nicht gegen die Ukraine, sondern in entgegengesetzte Richtung. 

 

Bis zum Morgen hatten die Wagner-Truppen tatsächlich die Millionenstadt Rostow-am-Don erreicht, wichtige staatlliche Einrichtungen und den Stab des südrussischen Militärbezirks umstellt - ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Der Grund dafür dürfte reicht einfach gewesen sein: In den ersten Stunden nach Beginn des Aufstands hatte die russische Staatsspitze noch die Hoffnung, den Söldnerchef durch Verhandlungen schnell zur Raison zu bringen. Doch der dachte gar nicht daran, wie auch der aus Moskau eilends eingeflogene General-Leutenant Wladimir Alexejew erkennen musste. Vor laufenden Kameras machte Prigoschin deutlich, dass er nicht weniger als den Kopf von Generalstabschef Valeri Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu fordere: "Solange sie nicht da sind, bleiben wir hier, blockieren die Stadt Rostow und ziehen nach Moskau." (Wortlautprotokoll der Verhandlungen bei Meduza, Russisch). Putin selbst griff er nicht persönlich an, aber anders als eine gewaltige Demütigung des eigentlich doch so allmächtigen Staatspräsidenten ließen sich die Geschehnisse kaum deuten.

In den kommenden Stunden spitzten sich die Ereignisse immer weiter zu. "Wagner"-Truppen rollten Richtung Moskau, Putin rang sich zu einer Fernsehansprache durch, in der er Prigoschins Putschversuch als Verrat und Dolchstoß in den Rücken der Nation geißelte, ohne den Anführer dabei namentlich zu nennnen. Die Truppen des moskautreuen Tschetschenen-Präsidenten Ramsan Kadyrow machten sich auf den Weg nach Rostow, um die Stadt von "Wagner" zu befreien. Spezialeinheiten bezogen Stellung an den südlichen Zufahrten zur Hauptstadt Moskau, um die dorthin rollenden Meuterer gewaltsam zu stoppen.

 

Putin wollte mit Prigoschin nicht mehr reden, mit den Moskauer Generälen wollte Prigoschin keine Abmachungen mehr treffen. Schließlich gelang es ausgerechnet dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, Prigoschin zur Aufgabe zu bewegen, der selbst nur noch im Amt sitzt, weil Putin ihm nach den Massenprotesten 2020 zur Seite sprang. Egal, was man über den Autokraten in Minsk sonst so denken mag, war die Einigung eine gute Nachricht. Für einige Stunden stand Russland nämlich tatsächlich am Rande eines Bürgerkriegs. 

 

kp, aufgeschrieben am 27.6.2023

Nachtrag 24.7.2023: Je mehr Zeit nach dem Prigoschin-Aufruhr vergeht, umso undurchsichtiger werden die Hintergründe der damaligen Ereignisse. Ein mysteriöses Treffen von Prigoschin und Putin wenige Tage nach der Meuterei, das Verschwinden des stellvertretenden russischen Oberbefehlshabers in der Ukraine, Sergej Surowikin, und so viele andere Ungereimtheiten geben Anlass zum Rätselraten. Welche Rolle Prigoschins Wagner-Streitmacht künftig in Weißrussland, im Ukraine-Krieg, in Afrika und anderswo spielen wird, scheint noch nicht ausgemacht. Und möglicherweise kommt doch noch alles ganz anders als vermutet.


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