Absturz einer Raumstation - Die letzte Nacht der "Mir"

Die Weltpresse umringt den Chef der russischen Raumfahrtbehörde
Die Weltpresse umringt den Chef der russischen Raumfahrtbehörde

Moskau (März 2001). Nur in ungewöhnlichen Situationen drängeln sich mehrere hundert Journalisten aus der ganzen Welt in einem einzigen Raum zusammen, um über ein Ereignis zu berichten, dass viele tausend Kilometer entfernt stattfindet. Und nur in wirklich historischen Nächten reicht nicht einmal der große Saal des russischen Raumflugleitzentrale in Koroljow aus, um den Besucheransturm aufzufangen. Mitten in der Nacht sollte vom Weltraumkontrollzentrum ZUP aus der ganze Stolz der russischen Wissenschaft zerstört werden. Mehr als 86.000 Mal war die Raumstation Mir seit 1986 um die Erde gekreist, nun sollten drei Bremsimpulse aus der Nähe von Moskau das 15 Jahre alte technische Wunderwerk aus seiner Umlaufbahn bringen. Die Überreste der Station sollten im Pazifk versinken, irgendwo am anderen Ende der Welt, in der Nähe der Fidschi-Inseln. Etwa sechs Stunden waren für das Absturzmanöver eingeplant.

 

 

Angst vor russischem Weltraummüll


Spätestens seit einer dramatischen Pannenserie Ende der Neunziger Jahre war die Mir ein internationaler Medienstar. Mehrfach war die Lage so brisant, dass eine Notevakuierung der Kosmonauten wahrscheinlich wurde. Nur das beherzte Eingreifen der Bordmannschaften ermöglichte den Fortbestand der bemannten russischen Raumfahrt. Boulevardzeitungen rund um den Globus dichteten vor dem Absturz Schauergeschichten über die vermeintliche Bedrohung durch unkontrollierte russische Weltraumtrümmer. Die Mir war während ihrer letzten Tage auch in Deutschland in aller Munde. Wir erhofften uns von dem Spektakel um die sterbende Raumstation neue Besucherrekorde auf den Seiten unserer Internetzeitung.

 

Am Eingang zum ZUP gab es dann zunächst eine böse Überraschung: Die Weltraumbehörde hatte die Presseleute wegen des großen Andrangs in zwei Klassen eingeteilt. Die wichtigen russischen Sender, CNN, ARD, Reuters, aber auch die Korrespondenten der größten internationalen Zeitungen, bekamen blaue Passierscheine ausgehändigt. Damit konnten sie direkt in den Saal gehen, von dem aus die Mir im Ozean versenkt werden sollte. 

 

ZUP Moskau
Warten auf den Absturz der Mir

Sitzplätze im falschen Flugleitsaal

 

Für die Vertreter offenbar weniger bekannter Medien gab es grüne Passierscheine. Die «grünen» Journalisten sollten sich auf den Besucherbalkon eines zweiten, baugleichen Saals bewegen. Von dort wurde die neue Internationale Raumstation ISS gesteuert. Mit dem dramatischen Absturz der Mir hatte das Geschehen in diesem Saal allerdings nicht das Geringste zu tun. Immerhin versprachen die Verantwortlichen, auch in der ISS-Leitzentrale würde die Presse über den Verlauf des Geschehens informiert.

 

Manche Korrespondenten mit grünem Kärtchen fügten sich in ihr Schicksal. Wahrscheinlich hatten sie beschlossen, dass es nichts ausmachte, wenn sie statt 15.000 Kilometer nun 15.000 Kilometer und 50 Meter von den Fidschi-Inseln entfernt waren. Auch unsere Agentur Rufo war für den ISS-Raum zugeteilt worden. Agentur-Chef Gisbert hatte allerdings ganz andere Pläne. Er diskutierte lange mit dem Pressedienst der Weltraumbehörde, den Sicherheitsleuten am Eingang zum Kontrollraum, fluchte und beschloss schließlich, um jeden Preis in den richtigen Raum zu kommen.

 

Dort waren die Plätze auf den Besucherbalkonen schnell besetzt: Fernsehteams aus aller Welt, verdienstvolle Kosmonauten, die einst selbst Wochen oder Monate auf dem russischen Außenposten im All zugebracht hatten, arabische Militärattaches mit Epauletten an den Uniformen. Alle starrten sie auf die riesige Weltkarte an der Wand, die jahrelang die endlose ellipsenförmige Mir-Umlaufbahn angezeigt hatte. Noch blinkte das Raumschiff auf der Karte auf, aber es kam dem Endpunkt seiner Reise immer näher.

 

Mitten in der Menge tauchte gelegentlich Juri Koptew auf, der hünenhafte Chef der russischen Weltraumbehörde. Er antwortete den Presseleuten nur einsilbig oder überhaupt nicht. Als Ehrengast war auch Sigmund Jähn ins ZUP gekommen. Das ZDF hatte den ersten deutschen Weltraumflieger exklusiv unter Vertrag genommen worden. Jähn kommentierte nun für die deutschen Fernsehzuschauer das Geschehen aus dem Kontrollzentrum. Aus dem richtigen Raum, versteht sich. 

 

Im Gedränge vor der Ausweiskontrolle entdeckte Gisbert schließlich einige Nachbarn - das Fernsehteam von RTL. Die beiden Kollegen hatten blaue Akkreditierungskärtchen, sie waren zu zweit und gerne bereit, uns zu helfen. Damit war unser Problem gelöst: Die zwei RTL-Leute gingen in den richtigen Raum, einer baute die Technik auf, der zweite kam mit dem blauen Passierschein des anderen in der Hosentasche zurück und schleuste einen von uns in den richtigen Raum. Im Laufe des Abends halfen die Kollegen mit der RTL-Akkreditierung noch dem halben deutschen Korrespondentenkorps durch die Einlasskontrolle. 


Alle erwartete eine lange Nacht in einem fensterlosen Saal mit zunehmend stickiger Luft. Allein — zu berichten gab es nicht viel. Das Versenken einer Raumstation im Pazifik erwies sich als ein enorm langatmiges Manöver. Der Flugleitsaal der Mir füllte sich dennoch im Laufe der Nacht immer mehr. Wir waren offensichtlich nicht die einzigen, die sich denselben Trick ausgedacht hatten. 

 

 

Am Morgen, die Mir war bereits ohne jeden Zwischenfall verglüht, ihre Reste genau im berechneten Planquadrat ins Meer gefallen, schaute ich auf dem Weg zum Ausgang noch einmal in den Saal für die Journalisten mit grünen Passierscheinen. Dort herrschte gehnende Leere — bis auf ein knappes Dutzend Reporter, die auf ihren Stühlen eingeschlafen waren, hatten alle sich in den anderen Raum einschmuggeln lassen. 

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