"Optimisten sind Menschen, die sich nicht ärgern, wenn sie den Zug verpassen. Sie denken dann einfach, dass sie etwas zu früh für den nachfolgenden gekommen sind."
Michail Sadornow (1948-2017), russischer Satiriker
Wer Russland besucht, ohne wenigstens einige Zugfahrten zu unternehmen, begeht einen ziemlich großen Fehler: Kaum ein Land auf der Welt eignet sich so sehr für Reisen mit der Eisenbahn. Kaum irgendwo lassen sich Land und Leute besser begreifen, als in einem Schlafwagenabteil der Russischen Staatsbahn RZD mit Teeglas auf dem Tisch, der Aussicht auf endlose Wald- und Wiesenlandschaften und jeder Menge neuer Bekannter. Komfortable Nachtzüge verkehren auf oft tagelangen Reisen zwischen den größeren Städten des Riesenreichs. Die Transsibirsche Eisenbahn, die Moskau und St. Petersburg mit dem Ural, Sibirien und sogar dem Pazifikhafen Wladiwostok verbindet, ist eine Legende. Aber anderenorts in Russland gibt es ebenfalls faszinierende Bahnstrecken - etwa durch den Kaukasus oder die wüstenartigen Gegenden im Süden des Landes. Auch die Anreise aus Westeuropa nach Russland ist weiterhin mit der Bahn möglich.
Die Eisenbahn spielt für Russland noch immer eine größere Rolle als in den meisten anderen Ländern Europas - trotz oder teilweise auch gerade wegen der riesigen Entfernungen. Erst seit einigen Jahren gibt es überhaupt eine durchgehende Straßenverbindung vom europäischen Landesteil bis in die fernöstliche Pazifikregion. Manche Städte im Norden Russlands, etwa Workuta, sind bis heute nicht an das Straßennetz angeschlossen. Auch für den Güterverkehr spielt die Eisenbahn eine enorm wichtige Rolle. Reisende werden auf einer Bahnfahrt durch Russland eine gigantische Menge langer Güterzüge sehen, die Öl, Kohle und andere Rohstoffe nach Westen oder Osten transportieren.
Eine Bahnreise durch Russland war nie einfacher als heute: Frühere Reisebeschränkungen für Ausländer wurden weitgehend abgeschafft, separate Ausländerkassen mit erhöhten
Preisen gehören der Vergangenheit an.
Die russische Eisenbahn hat in den vergangenen Jahren viel Geld in neue Züge investiert. Aber auch die älteren Waggons sind noch immer komfortabel genug. Der Verkehr wird überwiegend von den
Tochterfirmen der Staatsbahn RZD abgewickelt, es gibt einige private Mitbewerber.
Wer häufiger in Deutschland, Österreich oder der Schweiz unterwegs ist, muss sich umgewöhnen, denn bei der Russischen Eisenbahn ist der Zugverkehr nach einigen anderen Grundregeln organisiert:
Die russischen Vorortzüge - mehr oder weniger liebevoll "Elektritschka" genannt - befördern rund um die Großstädte riesige Passagiermassen, der Komfort ist allerdings recht eingeschränkt: Einige der älteren Modelle verfügen bis heute nur Holzbänke oder ebenso unbequeme Sitze aus Hartplastik. Im Berufsverkehr drängeln sich die Fahrgäste dicht an dicht. Es gibt nicht immer Toiletten an Bord, aber auf manchen Strecken bis heute viel Lokalkolorit, wenn sich fliegende Händler und Musiker ihren Weg durch die Menge bahnen. Fahrkarten müssen auch für diese Züge vor der Abfahrt gekauft werden. An größeren Bahnhöfen gibt es dafür separate "Vorort-Kassen".
Seit 2013 setzen die neuen Expresszüge vom Typ "Lastotschka" ("Schwalbe") neue Maßstäbe im russischen Regionalverkehr. Die auf der Grundlage der Siemens-Desiro-Fahrzeuge für die russische Eisenbahn entworfenen Züge sind deutlich komfortabler als herkömmliche Regionalbahnen. Zur Ausstattung gehören Biotoiletten und Steckdosen. Die Lastotschka-Züge fahren auf Regionallinien im Umland von Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg sowie im Großraum Sotschi. Außerdem sind sie auf einigen längeren Tagesverbindungen in Südrussland im Einsatz. Tickets kosten mehr als für gewöhnliche "Elektritschkas", aber Zeitgewinn und Komfort sind den Aufschlag allemal wert.
Im russischen Eisenbahnfernverkehr sind Nachtverbindungen über weitere Strecken nach wie vor die Regel. Auf viel befahrenen Routen - etwa zwischen Moskau und Sankt Petersburg oder auf der Hauptstrecke der Transsibirischen Eisenbahn - verkehren Züge verschiedener Komfortklassen. Als Faustregel gilt: Je niedriger die Zugnummer, desto höher der Standard.
Der Fernverkehr wird traditionell in drei Qualitätsgruppen eingeteilt: Premiumzüge ("Firmennyje pojesda") sind die besten. Diese Züge machen die wenigsten Zwischenstopps und
haben oft die neuesten Waggons. In der Regel haben sie ihre seit Jahrzehnten hochgehaltenen Markennamen: Der "Rote Pfeil" ("Krasnaja Strela") gilt als bester Nachtzug zwischen Moskau und
Sankt Petersburg. Der Zug "Rossia" auf der Strecke Moskau-Wladiwostok - als die Transsib-Verbindung schlechthin. Einen Schritt abwärts in der Qualität folgen die gewöhnlichen
Schnellzüge ("Skoryje pojesda"). Sogenannte Passagierzüge ("Passaschirskije pojesda") sind die langsamsten und billigsten, oft mit Waggons aus der Sowjetzeit. In den besseren Zügen ist
oft eine warme Mahlzeit im Fahrpreis enthalten, dazu gibt es vielfach auch ein Päckchen mit Zeitungen, Zahnpasta und anderen netten Kleinigkeiten.
Standardunterbringung in russischen Nachtzügen sind relativ geräumige Vier-Bett-Abteile ("Kupejny wagon") mit viel Stauraum für Gepäck über der Tür und unter den unteren
Liegen. Deutlich teurer ist die Fahrt in baugleichen Abteilen mit nur zwei Liegen ("Spalny Wagon" oder abgekürzt "SW"), die aber nicht in allen Zügen verfügbar
sind. Die meisten, aber nicht mehr alle Züge führen auch 3.-Klasse-Wagen mit Liegen, aber ohne Abteiltüren. In diesen Waggons gibt es zusätzlich zu den vier Betten pro
offenem Abteil noch jeweils zwei Schlafgelegenheiten längs zum Gang ("Platzkartny Wagon"). Eine Fahrt im Platzkartny-Wagon ist für große Personen nur bedingt empfehlenswert, da
erfahrungsgemäß die Beine dann irgendwie immer in den Durchgang hinaushängen und etliche Fahrgäste auf dem Weg zum Zugklo oder in den Speisewagen dagegen stoßen. Allerdings sind selbst diese
3.-Klasse-Wagen zum Reisen über Nacht noch immer wesentlich besser geeignet als die gewöhnlichen IC- oder ICE-Züge, die die Deutsche Bahn mittlerweile durch die Nacht schickt, seit sie ihre
Schlafwagen komplett ausgemustert hat.
In manchen, aber nicht in allen Zügen werden separate Damenabteile angeboten. Angst um die eigene Sicherheit muss man an Bord der russischen Nachtzüge eigentlich nicht
haben. Auf Strecken in den Kaukasus wurden die Züge früher von bewaffneten Polizeieinheiten begleitet, aber derlei Begleitschutz wird inzwischen kaum noch eingesetzt.
Seit 2009 gibt es zwischen Moskau und Sankt Petersburg zusätzlich zu etlichen Nachtzügen auch eine Reihe von Tagesverbindungen mit dem Hochgeschwindigkeitszug "Wanderfalke" ("Sapsan"). Die nach ICE-Vorbild von Siemens konstruierten Elektrotriebwagen sind mit bis zu 250 Stundenkilometern zwischen den beiden Millionenmetropolen unterwegs und benötigen weniger als vier Stunden für die gesamte Strecke. Die Züge sind so konstruiert, dass sie auch bei extremen Wintertemperaturen uneingeschränkt einsatzfähig bleiben. Einige Jahre lang waren die Breitspur-ICEs auch zwischen Moskau und Nischni Nowgorod im Einsatz. Diese Verbindung wurde jedoch 2015 wieder eingestellt, dort kommen jetzt moderne Talgo-Züge vom Typ "Mauersegler" ("Strisch") zum Einsatz, die auch von Moskau nach Berlin fahren.
Fahrkarten für russische Züge gelangen in der Regel zwei Monate vor der Abfahrt in den Verkauf. Agenturen haben auch schon früher Zugriff. Während der Sommerferien und auf allen internationalen Strecken sollten Tickets so früh wie möglich besorgt werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:
Es soll Leute geben, die das Tarifsystem der Deutschen Bahn für kompliziert halten. Im Vergleich zum russischen Tarifdschungel ist das deutsche System allerdings ein Vorbild an
Transparenz und Klarheit.
Tatsächlich ist kaum etwas schwerer, als eine Vorstellung davon zu geben, wie teuer (oder günstig) eine Bahnfahrt durch Russland wird. Die Preise variieren stark nach:
Doch das ist noch nicht alles: Oft unterscheiden sich die Ticketpreise mittlerweile sogar innerhalb derselben Wagenklasse des selben Zuges - je nachdem, ob der konkrete
Schlafwagen modernisiert wurde oder nicht. Außerdem sind obere Liegeplätze meist deutlich günstiger als untere.
Die Staatsbahn RZD hat vor einigen Jahren auch regelmäßige Rabattaktionen eingeführt. Dadurch kann es auch so kommen, dass 2.-Klasse-Fahrkarten ("Kupejny") gelegentlich günstiger sind als
3.-Klasse-Tickets für die offenen Liegewagen ("Platzkartny"). Glücklicherweise lassen sich alle Preise für jeden einzelnen Sitz- oder Liegeplatz im Voraus auf der Website der
Eisenbahn nachrecherchieren.
Benimm-Regeln aus einem russischen Speisewagen:
"Verehrte Passagiere!
(...)
Wegen der beschränkten Anzahl von Plätzen ist der Aufenthalt im Speisewagen auf maximal eine Stunde begrenzt.
Personen in Jacken und Mänteln, kurzen Hosen, mit nacktem Oberkörper, in angetrunkenem Zustand oder mit unangemessenem Auftreten werden nicht bedient!"
Russische Schlafwagen werden von jeweils zwei Schlafwagenschaffnern (das russische Wort dafür lautet "Prowodnik" bzw. bei Frauen "Prowodniza") betreut, die während der gesamten
Fahrt über Ansprechpartner für alle Fragen sind. Bei ihnen kann man Tee und kleine Snacks bestellen. Außerdem führen die russischen Fernverkehrszüge seit einigen Jahren eine beachtliche Menge an
teilweise durchaus nützlichen Souvenirs mit (3D-Lokomotiven-Puzzle, Eisenbahn-Datensticks, Taschenmesser mit RZD-Logo und vieles mehr).
Die meisten Russen, die sich auf eine längere Bahnreise begeben, richten sich in ihrem Abteil als erstes gemütlich ein: Schlappen und Trainingshose statt Jacket und Krawatte sind dann
angesagt. Zum guten Ton gehört, bei gemischtgeschlechtlich besetzten Abteilen kurz in den Korridor zu gehen, damit die Mitreisenden sich umziehen können.
Je weiter von Moskau entfernt, desto größere Neugierde schlägt ausländischen Reisenden im Zug entgegen. Mir ist es schon passiert, das mehrere Schlafwagenschaffner aus den Nachbarwaggons zu uns
kamen, weil sie ihr Englisch trainieren wollten. Mit den Mitreisenden im Abteil wird man sowieso schnell ins Gespräch kommen, den Proviant teilen und gegebenenfalls ein Gläschen auf die
Völkerfreundschaft heben. Wer keine Lust auf Zechgelage hat (die es gelegentlich auch geben kann), sollte klarmachen, dass er keinen Alkohol trinkt. Damit ist die Angelegenheit dann
geklärt.
Rauchen wurde lange Zeit in den Übergängen zwischen den Waggons geduldet, aber inzwischen schreiten Prowodniki härter dagegen ein. Nikotinabhängige müssen deshalb in der Regel sich gedulden, bis wieder einmal ein längerer Zwischenhalt ansteht. An allen größeren Stationen verkauften früher Anwohner den Reisenden Proviant: selbstgebackene Piroggen, Bratkartoffeln oder Obst aus dem eigenen Garten. Sogar Krebse und Räucherfisch gab es mancherorts. Leider wird dieser vermeintlich unzivilisierte Handel längst nicht mehr überall geduldet.
Fast alle Schlafwagenzüge führen einen Speisewagen mit. Qualität und Preise unterscheiden sich leider erheblich. In manchen Zügen tischt freundliches Personal leckere Gerichte auf, in anderen müssten vor den Zug-Restaurants große Warnschilder aufgehängt werden. (kp)
Aus Russland gibt es schlechte Nachrichten für Bahnfreunde: Die Russische Eisenbahn RZD will einen großen Teil ihrer Speisewagen aufs Abstellgleis stellen. Das vermelden zahlreiche russische Medien (z.B. RBK oder die Nowye Iswestia). Bahnchef Oleg Belosjorow findet den Betrieb der rollenden Restaurants zu teuer. Klassische Speisewagen soll es nur noch in Zügen der Premiumklasse ("Firmennyj pojesd") und in speziellen Touristenzügen geben. Bislang werden die rund 400 Speisewagen der russischen Bahn von verschiedenen Subunternehmen betrieben. Tatsächlich gibt es dort eine breite Spannweite bei gastronomischem Angebot und Service. Und oft, aber längst nicht immer lässt das Preis-Leistungs-Verhältnis zu wünschen übrig.
Gute Nachrichten zum Thema Reisen sind in der Corona-Krise noch seltener als Steinpilze im Winter. Nun kommt eine solche Meldung ausgerechnet aus einer Region, aus der man es am allerwenigsten erwartet hätte und in der noch Ende 2020 ein blutiger Krieg tobte: Überland-Reisen durch den Kaukasus könnten nach der Pandemie deutlich einfacher werden. Nach dem von Russland ausgehandelten Waffenstillstand in Berg-Karabach haben sich die Präsidenten der verfeindeten Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan bei einem Gipfel in Moskau im Grundsatz darauf verständig, die Verkehrsblockaden in der Region zu beenden. Aserbaidschans Staatschef İlham Əliyev (Alijew) kündigte an, die 30 Jahre lang gesperrten Eisenbahnlinien zwischen beiden Ländern wieder zu öffnen (Quelle: Kommersant, Russisch).
Trotz Corona-Krise will die Russische Eisenbahn RZD ihr Angebot im Fernverkehr mit dem neuen Fahrplan 2020/2021 sogar noch leicht ausbauen. Vorgesehen sind insgesamt 596 Fernzugpaare, 13 mehr als im laufenden Jahr. Als kuriose Neuerung ist sogar erstmals geplant, die modernen Regionalexpress-Züge vom Typ "Lastotschka" auf einer internationalen Verbindung einzusetzen. Sobald wie möglich sollen tagsüber zwei Zugpaare zwischen Moskau und Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland (Belarus), hin- und herdüsen - auf einer Strecke von immerhin 700 Kilometern, auf der bislang fast nur Nachtzüge unterwegs sind. Grundsätzlich hält Russlands Staatsbahn an den bis zur Krise bestehenden Auslands-Verbindungen fest. Grund zur Sorge gibt es dennoch.
Die Russische Eisenbahn RZD will bereits in naher Zukunft Passagiere mit autonom fahrenden S-Bahn-Zügen befördern. Schon ab 2021 könnte eine fahrerlose Version der von Siemens entwickelten modernen "Lastotschka"-Regionalexpress-Züge in Moskau regulär in Betrieb genommen werden. Erste Modellstrecke in Russland soll der Kleine Moskauer Eisenbahnring werden. Dort werden inzwischen die ersten Züge mit der nötigen Software und Steuerungstechnik ausgerüstet. Auf der jahrzehntelang nur von Güterzügen genutzten Strecke wurde 2016 ein eng getakteter S-Bahn-Verkehr gestartet. Als Linie 14 soll der 54 Kilometer lange "Moskauer Eisenbahnring (MCK)" die überfüllte Moskauer Metro entlasten.