Auf den Abstellgleisen des Ostens

Mit dem Zug vom Balkan nach Moskau


Sie sind wie Fossilien der Verkehrsgeschichte. Schlafwagen der Russischen Eisenbahn fahren bis heute in manche europäischen Hauptstädte - teils über mehrere Tausend  Kilometer und allen Billigfliegern zum Trotz. Vor einigen Jahren konnten echte Bahnfreaks einmal pro Woche mit der sinnlosesten Schlafwagenverbindung des Kontinents reisen: Ein grüner Waggon aus DDR-Produktion verband sechs europäische Staaten, rollte von Moskau bis ins griechische Thessaloniki und wieder zurück, die einfache Fahrtzeit betrug laut Fahrplan knapp 64 Stunden. In der Praxis kam es oft zu einigen Verzögerungen...

Kurswagen Moskau Thessaloniki Tschop
Der Griechenland-Kurswagen am Umspurwerk in Tschop / Ukraine

Tag 1, 22:00 Uhr, Skopje, Republik Mazedonien:

Etwa 100 Menschen springen auf, greifen hektisch nach ihren Koffern und wuchten schwere Reisetaschen über die Schultern, als sie die Lichter der Lokomotive in der Dunkelheit näherkommen sehen. Doch wieder ist es nur ein Güterzug, der durch die spärlich beleuchtete Halle des Bahnhofs rattert und bald wieder hinter einer Kurve verschwindet. Zum dritten Mal nur falscher Alarm. Der Nachtzug von Thessaloniki nach Belgrad ist seit anderthalb Stunden überfällig, aber bislang gab es noch nicht einmal eine offizielle Durchsage. 

Wer in Deutschland schon über die zehnmütige Verspätung seines ICE schimpft, sollte besser nie im Leben mit der mazedonischen Eisenbahn reisen. Jugoslawien war nie ein wirkliches Eisenbahnland, der praktische Nutzwert von Fahrplänen auf dem Balkan schon immer äußerst begrenzt.

Ob es im Schlafwagen nach Moskau noch freie Plätze gab, wusste die freundliche junge Eisenbahnerin am Fahrkartenschalter nicht. Im unabhängigen Mazedonien besitzt nicht einmal der Bahnhof der Hauptstadt einen Computer. Immerhin: Die Schalterfrau sprach passables Englisch, stellte von Hand die Fahrkarte in die russische Hauptstadt aus, knallte dicke Dienst-Stempel darauf, was das eigenartige Ticket gleich wichtiger aussehen ließ. 

Endlich, mit etwa zwei Stunden Verspätung, kommt der Zug aus Griechenland dann doch. Überfüllte Waggons, Reisende drängen sich mit ihrem Gepäck in die heruntergekommenen alten Liegewagen. Nur zum dunklen Waggon ganz am Ende des Zuges geht niemand. "Moskau - Thessaloniki" steht in russischen und griechischen Buchstaben auf dem Zuglaufschild. Kein Licht brennt im Gang. Erst auf hartnäckiges Klopfen hin öffnet ein grauhaariger Mann mit nacktem Oberkörper die Tür, dem ein kleines silbernes Kreuz vor der Brust baumelt - offensichtlich der Schlafwagenschaffner.

Die Bahnfahrt nach Moskau beginnt relativ skurril, denn ich darf nicht einsteigen. Statt Freude über einen Fahrgast gibt es nur Probleme. "Wie viel willst Du zahlen?" fragt der Schaffner ziemlich unwirsch. "Ist das hier etwa ein Basar?" entgegne ich, aufrichtig verblüfft. Doch das ist offenbar die falsche Antwort. Woher ich komme, ob auch der Pass in Ordnung sei, ob ich wirklich alle nötigen Visa für alle Länder besitze. Und überhaupt, knurrt der Mann schließlich, ohne Schlafwagenkarte von der Bahnhofskasse gebe es auch kein Abteil. Dann klappt er die Tür einfach wieder zu. 

Zwei Wagen weiter vorne verkauft der mazedonische Liegewagenschaffner noch Schlafplätze für 8 Euro, nur bis Belgrad, aber besser als nichts. Die meisten Abteile sind schon mit Interrail-Touristen auf dem Heimweg vom Griechenland-Urlaub belegt. Die nüchternen Interrailer diskutieren bis tief in die Nacht, ob die Serben allein Schuld sind an den Tragödien des Balkans, die besoffenen grölen durch die offenen Fenster Lieder in die kühle Nacht hinaus.



Tag 2, 9:30 Uhr, Belgrad, Serbien

Wegen der katastrophalen Unpünktlichkeit warnen alle einschlägigen Reiseführer vor der Bahnverbindung zwischen Belgrad und Griechenland. Die letzten einhundert Kilometer bis in die serbische Hauptstadt war der Nachtzug mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von geschätzt 30 Kilometern pro Stunde über die marode, eingleisige Strecke gerattert. Sein Ziel erreicht der Expresszug mit soliden viereinhalb Stunden Verspätung. 

Die Interrail-Touristen machen sich schnell auf die Suche nach ihren Anschlüssen. "Schau, ein Zug aus Griechenland nach Russland", raunt ein amerikanischer Rucksackreisender im Vorübergehen seinem Freund zu. "That's crazy!" 

Vor dem russischen Schlafwagen stehen rauchend ein paar Fahrgäste. Gennadi, so heißt der mürrische Mann aus der letzten Nacht, und ein zweiter Schlafwagenschaffner haben sich ihre Eisenbahner-Uniformen angezogen. Unter ihren Schirmmützen machen die beiden eine besorgte Miene: der Anschlusszug nach Ungarn ist vor über einer Stunde abgefahren, und eigentlich hätte der Moskauer Waggon an ihn umgehängt werden müssen.

Ich unternehme trotzdem einen neuen Versuch, noch in dem Waggon unterzukommen. "Immer noch alles belegt?" frage ich spöttisch. Gennadi will jetzt 80 Euro für einen Schlafwagenplatz nach Moskau, ich biete 30. Wir einigen uns auf 50 für ein Einzelabteil. Der alte Waggon aus dem VEB Waggonbauwerk in Ammendorf hat komfortable Abteile mit Waschbecken und Klimaanlage, wurde vor einigen Jahren komplett überholt.

 

 

Das einzige Problem ist: "Niemand kann jetzt mehr sagen, wann wir in Moskau ankommen werden", sagt Gennadis Compagnon. Er gibt sich gleich von seiner charmanten Seite: "Aber wir bemühen uns, Ihnen allen den Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich zu machen." Die beiden Schlafwagenschaffner haben zudem etwas Hoffnung, dass wir doch noch irgendwie rechtzeitig nach Budapest gebracht werden, um den vorderen Teil unseres Zuges wieder einzuholen.


Tag 2, 21:00 Uhr, Budapest, Ungarn

Die Sonne geht bereits unter, als der Intercity Belgrad-Budapest, heute außerplanmäßig mit einem russischen Schlafwagen im Schlepptau, endlich die ungarische Hauptstadt erreicht. Eine Stunde verspätet war er in Belgrad abgefahren, dann wurde er wegen Bauarbeiten über eine Nebenstrecke umgeleitet. Für die etwa 200 Kilometer bis zur ungarischen Grenze hatte er gute sieben Stunden benötigt. 

Der Nachtzug nach Moskau ist natürlich längst weg, andere Züge Richtung Osten fahren heute vom Budapester Bahnhof Keleti überhaupt nicht mehr ab. Die Passagiere nehmen die neuen Nachrichten mit Fassung. Nur ein Mann aus dem Nachbarabteil regt sich auf. Ein athletischer Typ, schwarze Locken, kantige Gesichtszüge, wie abgemalt von einer antiken griechischen Vase. Er ist auf dem Weg in die Karpaten. 

"Ich hab da ein teures Sanatorium gebucht, ganz umsonst viel Geld zum Fenster rausgeschmissen" schimpft er in bestem Russisch. Panaiotis, so heißt der Mann, ist wie die meisten Fahrgäste ein Schwarzmeergrieche. Seine Eltern lebten einst in Sotschi, Stalin ließ sie wie die Wolgadeutschen während des Zweiten Weltkrieges nach Kasachstan deportieren. Wie die Russlanddeutschen nutzten auch die meisten Russlandgriechen die Perestroika, um in die historische Heimat auszuwandern.

In Budapest muss Gennadi mit dem Bahnhofsvorsteher als erstes darüber verhandeln, wer das Bioklo des Waggons leerpumpt, doch die Ungarn verstehen weder Russisch noch Englisch. Eine Bahnbeamtin spricht gebrochen Deutsch. Ich werde als Dolmetscher gebraucht. Auch Gennadi tut jetzt sein Bestes und kämpft für seine Passagiere: "Könnt ihr uns wenigstens etwas zu essen bringen?" bettelt er. "Wir haben Kinder an Bord." Die Ungarin lächelt uns an: "Wer hat denn Schuld an der Verspätung?" will sie wissen. "Na ja, zuerst die Griechen, dann die Mazedonier, vor allem die Serben", sagt der Schaffner, "und ein bischen auch die Ungarn" fügt er schnell hinzu, weil er wohl ahnt, was jetzt kommt. Aber es klingt nicht überzeugend. Die Bahnfrau lächelt weiter: "Dann verlangen Sie am besten bei den Serben eine Entschädigung."

Fluchend zieht der Schlafwagenschaffner davon. Früher, im Kommunismus, brummt er, habe es diese ganze Schlamperei so nicht gegeben. Gennadi ist schon seit Jahrzehnten der Bahn. Er war auch oft in Deutschland, früher, als es noch ein Land namens DDR und sogar die Direktverbindung Schwerin - Moskau gab. 

Währenddessen wird es dunkel - und der Kurswagen aus Thessaloniki ist längst aus dem Bahnhof weggezogen worden. Wir finden ihn einen halben Kilometer vom Bahnhofsgebäude entfernt nach einem abenteuerlichen Marsch über die Gleise. An Bord haben Panaiotis und seine russische Freundin Galina ihre Ouzu-Vorräte angebrochen. Alle Reisenden teilen ihren Proviant jetzt mit einem Griechen und dessen armenischer Verlobten, die sich ganz ohne Verpflegung auf den langen Weg nach Brjansk gemacht hatten. "In Athen hatten sie uns erzählt, es gebe hier einen Speisewagen", erzählt die Armenierin, die seit zehn Jahren nicht mehr in ihrer Heimatstadt war. 


Tag 3, 12:00 Uhr, Tschop, Ukraine

Die ganze Nacht über haben die ungarischen Eisenbahner nichts anderes zu tun, als den Moskauer Schlafwagen mit seinen dreizehn unglücklichen Passagieren und zwei Schlafwagenschaffnern von einem Abstellgleis aufs andere zu schieben. Offenbar steht der Waggon überall im Weg herum. 

Am frühen Morgen schließlich geht es weiter, am Schwanz eines Bummelzugs nach Zahony, der Grenzstadt ganz im Osten Ungarns. Gegen Mittag bringt eine Güterlok den Waggon über die Grenze in die Ukraine, wo grimmige Grenzer mit Schäferhunden zuerst nach Drogen suchen, dann das Gepäck der Armenierin durchwühlen und versuchen, "Zollgebühren" für ihre Mitbringsel an die Verwandschaft zu kassieren.

Vermutlich gibt es in Europa keine andere Kleinstadt mit gleich zwei derart überdimensionierten Bahnhofsgebäuden wie Tschop. Das heruntergekommene Städtchen besteht aus einer Handvoll Straßenzügen und riesigen, Kilometer langen Eisenbahnanlagen. Einst gehörte Tschop zu Östereich-Ungarn, dann zur Tschechoslowakei, danach zu Ungarn. Nach 1945 wurde die Stadt - neben Brest - schließlich zu einem der zwei großen Eingangstore der Sowjetunion. Hier machten alle Schlafwagenzüge aus Prag, Budapest oder Wien auf dem Weg nach Kiew oder Moskau halt und wurden von der europäischen auf die russische Breitspur umgebaut. 

Die zeitaufwändige Prozedur gibt es auch heute noch. Auf freiem Feld wird der Waggon aufgebockt und mit Winden in die Höhe gezogen. Die europäischen Radgestelle werden abmontiert, russische unter den Schlafwagen gezogen. Gennadi will die Zeit nutzen, um herauszufinden, wie es nun weitergeht mit der Reise. Inzwischen hat er erste besorgte Anrufe aus Moskau bekommen. Dort ist jetzt bekannt, dass der Waggon aus Griechenland unterwegs verloren gegangen ist.

Der Bahnhofschefin von Tschop ist der Schlafwagen aus Thessaloniki ebenso egal, wie zuvor den Eisenbahnern in Belgrad und Budapest. Der Waggon werde für 16 Stunden auf ein Abstellgleis gestellt und am nächsten Morgen an den Schnellzug nach Moskau gehängt, beschließt sie. Ob es nicht vielleicht auch schneller gehe, wollen jetzt einige Fahrgäste wissen, die gemeinsam mit Gennadi ihren Schreibtisch umlagern. Nein, das gehe nicht, schüttelt sie ihren blond gefärbten Haarschopf. Außerdem müsse sie sich auch noch um andere wichtige Dinge kümmern als um einen einzelnen Schlafwagen, sagt sie und steht auf. Kurz darauf kann man die Frau beim Einkaufsbummel in der Stadt treffen.

Obwohl damit klar ist, dass die Fahrt noch lange nicht vorbei sein wird, ist die Stimmung an Bord des Schlafwagens nun deutlich entspannter. Es kommt fast so etwas wie familiäre Atmosphäre auf. Den Nachmittag verbringen die meisten aber nicht auf dem Abstellgleis, sondern im einzigen guten Restaurant der Stadt, wo es zwar nur Schnitzel und Soljanka gibt, ein reichhaltiges Mittagessen mit Salat umgerechnet aber nur drei Euro kostet. 


Tag 4, 11 Uhr, Lemberg, Ukraine

Nach einer Nacht neben der Umspuranlage von Tschop läuft nun alles wieder nach Plan. Der Schnellzug nach Moskau fährt am frühen Morgen pünktlich ab.

Galina hatte am Morgen über ihre Zeit als Illegale in Griechenland erzählt, davon, wie sie sich als Haushaltshilfe durchschlagen musste. Dabei hatte sie es eigentlich weit gebracht in ihrem Betrieb in einer Stadt bei Rostow am Don, mitten in der südrussischen Steppe. "Wenn ich auf der Bank etwas erledigen musste, hatte ich Anspruch auf einen Dienstwagen", erinnert sie sich. Das relativ komfortable Provinzleben war beendet, als die Sowjetunion zusammenbrach. Schließlich hatte Galina ihr letztes Geld zusammengekratzt, eine Ferienreise nach Griechenland gebucht, war losgeflogen und dageblieben, als das Visum ablief. 

Es muss eine furchtbare Zeit gewesen sein, ohne Rechte in einem fremden Land, der Willkür eines herrischen Greises ausgesetzt, den sie betreuen musste. Die Russin hatte während dieser Zeit begonnen, Gedichte zu schreiben, über das Land ihrer Träume, das so ganz anders war als erhofft, und den verhassten alten "Maulwurf", der ihr verboten hatte, in der Wohnung irgendwelche Geräusche zu machen. In Griechenland wollte bislang niemand die Verse veröffentlichen.

Am späten Vormittag erreichen Galina und Panaiotis ihren Zielbahnhof Lwow, das frühere Lemberg. Von hier sind es noch hundert Kilometer bis zu ihrem Karpaten-Sanatorium. "Griechenland ist wunderschön", sagt Panaiotis zum Abschied. "Aber wenn Du Magenprobleme hast, gibt es das beste Mineralwasser nur hier." 


Tag 5, 9:56 Uhr, Moskau, Russland

Mit Höchsttempo war der Schnellzug durch die Ukraine gerast, hatte am Abend Kiew erreicht, in der Nacht die russische Grenze bei Brjansk. Die vierte Nacht in Folge im Zug vergeht wie im Fluge. Weder das Rattern der Räder, noch das Quietschen der Bremsen oder die nächtlichen Lautsprecherdurchsagen auf den Bahnhöfen stören inzwischen mehr den Schlaf. Auf die Minute pünktlich erreicht Zug am Morgen schließlich den Kiewer Bahnhof in Moskau. Der Kurswagen Thessaloniki-Moskau ist auf die Minute genau einen Tag später als geplant am Ziel seiner Reise. Zum Schluss sind noch drei Fahrgäste an Bord.

"Und ich Verrückter habe gedacht: Fahr doch mal mit der Eisenbahn" lacht Georgi einer der übrig gebliebenen Russlandgriechen, der aus Athen kommt und von Moskau aus sogar noch in seine Heimatstadt im Ural weiterfahren will. "Ich dachte: Das ist ja so romantisch." Georgi verschwindet in der Menschentraube, die sich zum Eingang der Metro-Station drängt. Nur noch ein Tag, dann ist auch seine Fahrt beendet. 

(Die Fahrt fand im August 2009 statt, aufgeschrieben im November 2009. Derzeit gibt es keine Direktverbindung mit dem Zug zwischen Russland und Griechenland. Alle anderen Kurswagen in die Balkanländer wurden zum Fahrplanwechsel Ende 2016 eingestellt.)


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