"Das Märchen hat sich mit dem Leben verwoben, und er trauert manchmal unbewusst darum, dass das Märchen nicht das Leben und das Leben kein Märchen ist."
Iwan Gontscharow (1812-1891), in "Oblomow"
Anfang März 2024 hat das Auswärtige Amt in Berlin seine "Reise- und Sicherheitshinweise für Russland" nochmals verschärft. Wegen der angeblichen Gefahr "willkürlicher Festnahmen" wird von Reisen in das größte Land der Welt nicht mehr nur abgeraten, sondern "dringend abgeraten". Zahlreiche Medien griffen das Thema auf, und innerhalb von wenigen Stunden nach meiner Rückkehr von einer Reise zu Familie und Freunden ins winterliche Russland meldeten sich etliche deutsche Bekannte, ehrlich erleichtert, dass ich in Moskau nicht in Geiselhaft genommen wurde. Die "Sicherheitshinweise" aus Berlin verunsichern momentan viele - dabei sind sie voller Fehler und folgen in manchen Punkten eher ideologischem Schubladendenken als den Fakten.
Ende 2023 wurde auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hinter den Polarkreis verbracht, nach einem weiteren Prozess, der ihn für immer von der politischen Bühne Russlands beseitigen sollte. In ein Straflager in Charp, am Ende der Welt. Nun ist Nawalny tot, er wurde 47 Jahre alt. Die russische Polizei nimmt regierungskritisch gesonnene Russen fest, die Blumen stellvertretend an den Denkmälern für die Opfer des Stalin-Terrors niederlegen. Westliche Politiker überbieten sich mit zornigen Statements. Und die russische Führung tut so, als habe sie nichts mit allem zu tun.
Es ist nicht lange her, da bezog sich die Redewendung „vor dem Krieg“ auf Zeiten, die Jahrzehnte zurücklagen. „Vor dem Krieg“ – das war die
Bullerbü-Kindheit meiner deutschen Mutter auf einem Bauernhof in Ostpreußen, das waren die vergleichsweise unbeschwerten Vorschuljahre meiner russischen Schwiegermutter in einem Försterhaus
irgendwo bei Moskau – bevor die Deutschen kamen. Inzwischen meinen wir ganz andere
Dinge, wenn wir von der Zeit „vor dem Krieg“ sprechen. Nur die Erinnerungen voller Nostalgie an eine untergegangene Ära sind ähnlich.
Ein Beitrag für das Buch "Bedrohter Diskurs" von Helmut Donat und Hermann Theisen
Die östlichen EU-Mitgliedsstaaten stopfen nach und nach die letzten Löcher ihres neuen Eisernen Vorhangs zwischen Russland und dem restlichen Europa. Kurz nach Jahreswechsel gab Finnland bekannt, dass die über 1.300 Kilometer lange Landgrenze zum neuerdings verfeindeten Nachbarn komplett geschlossen bleiben soll (S. z.B. YLE, Englisch) - vorerst bis Mitte Februar.
Innenministerin Mari Rantanen von der Rechtsaußen-Partei "Die Finnen" begründete den Schritt mit der "nationalen Sicherheit". Für Russland-Reisende ist die andauernde Grenzblockade durch die finnischen Behörden eine mittlere Katastrophe: Bis Ende 2023 war die Route über die russisch-finnische Grenze für diejenigen, die die EU noch passieren ließ, einer der unkompliziertesten.
Viele Leute interessieren sich für Russland. Nur wenige Deutsche waren schon einmal dort. Einige würden das rätselhafte Riesenland im Osten gerne kennenlernen, sie wissen aber nicht,
wie sie das am besten anstellen. Und was sie dort erwartet. Für solche Neugierigen war dieser Reiseblog gedacht. Gewissermaßen wie ein Kanal, der Rhein und Wolga verbindet.
Dann begann der Krieg, und auch im Internet gilt: À la guerre comme à la guerre bzw. на войне как на войне. Nach Reisen ist momentan vielen nicht mehr zumute.
Daher ist auch dieser Blog gerade ein ganzes Stück politischer, als das einmal geplant war.