"Ich jedenfalls stehe auf der Seite von Jesus Christus. Der war unser erster Sozialist. Das lässt sich nicht mehr ändern."
Michail Gorbatschow, sowjetischer Partei- und Staatschef (1931-2022), in einem Fernseh-Interview 1997
Er hatte der Welt die Angst vor einem Atomkrieg genommen, Millionen Menschen Freiheit gebracht und ihnen die Chance gegeben, gemeinsam ein Europa aufzubauen, das Osten und Westen gleichermaßen hätte umfassen können. Sein Wirken hat das geteilte Deutschland, meine Heimat, zusammengeführt, aber auch die Sowjetunion, seine eigene Heimat, im Chaos zerfallen lassen. Michail Gorbatschow war ein Staatsmann mit einer Vision einer besseren Welt, ein tragischer Held von epischem Ausmaß - aber zweifellos ein Held. Für einen kurzen historischen Augenblick hat er Menschen rund um den Globus an seinen Hoffnungen teilhaben lassen. Mit seinem Tod am 30. August 2022 endet gewissermaßen auch diese Zeit der Hoffnung.
Während meiner Zeit in Moskau hatte ich immer wieder versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, die mich an Michail Gorbatschow am meisten faszinierte: Wie war es dem vergleichsweise jungen Parteichef mit einer vorbildlichen Funktionärslaufbahn gelungen, einem solch verkrusteten System wie dem sowjetischen die Fesseln zu sprengen? Wie konnte ein mutiger Reformer überhaupt bis an die Spitze der Machtpyramide einer Diktatur gelangen? Tatsächlich waren Gorbatschows Vorhaben trotz der unbestreitbar schweren Krise der Sowjetunion anfangs äußerst waghalsig. Sein vormaliger Chefideologe Alexander Jakowlew erzählte mir einmal in einem Radiointerview (Archiv Radio Swoboda, Russisch), die drei maßgeblichen Reformer in der Parteispitze - Gorbatschow, der Georgier Eduard Schewardnadse und er selbst - hätten anfangs jede Nacht damit gerechnet, abgesetzt und verhaftet zu werden. Doch die Zeit sei reif gewesen für einen Umbruch. Vielleicht ist das die wichtigste Lehre aus der Ära Gorbatschow: Wenn die Zeit reif ist, dann ist fast alles möglich.
Gorbatschow sagte später, das Ausmaß der notwendigen Veränderungen sei ihm selbst erst nach und nach bewusst geworden. Er hatte nach der Übernahme der Parteispitze schnell verstanden, dass der Rüstungswettlauf mit den USA sein Land ruinierte und dass es sich von den Lebenslügen des Sowjetsystems befreien musste: Die Wahrheit über die Massendeportationen der Stalin-Zeit, das Massaker von Katyn und viele andere Verbrechen der Sowjetführung wurde nicht mehr in Geheimarchiven weggeschlossen. Einstmals verbotene Bücher wurden gedruckt, die Medien machten sich von den Ketten der Zensoren frei. Der katastrophale Afghanistan-Krieg wurde beendet, ebenso die Gängelung der Kirchen. Dissidenten konnten wieder aus der Verbannung oder dem Exil zurückkehren.
Vieles ist Gorbatschow misslungen, das wird man jetzt überall in den Nachrufen lesen können. Die Sowjetunion mit ihrem ineffizienten, maroden
Wirtschaftssystem konnte er nicht retten, den Absturz vieler Millionen Menschen in bittere Armut nicht aufhalten. Und er blieb auch nicht ohne Schuld. Beim Versuch, den Staat zu retten, ließ er
es geschehen, dass Panzer friedliche Demonstranten in Vilnius niederwalzten und auch anderenorts die Gewalt eskalierte. Später, als Gorbatschow nach dem gescheiterten Putsch der
Hardliner im August 1991 von seinem Gegenspieler Boris Jelzin demontiert wurde, gab er aber auch, wohl als erster Herrscher Russlands, freiwillig zu Lebzeiten die Macht ab (Rücktrittsrede bei Youtube).
Von Offenheit und Demokratie, die er für die Sowjetunion vorgesehen hatte, wollten die korrupten und nationalistischen Eliten der meisten Nachfolgestaaten nicht mehr viel wissen. Maßgeblich
von ihm vorangetriebene Abrüstungsverträge mit den USA landeten später im Papierkorb. Die Menschen in Russland, dem mit Abstand größten Nachfolgestaat
der Sowjetunion, machten Gorbatschow persönlich für die existenzielle Krise nach dem Zerfall der UdSSR verantwortlich. Viele verachteten ihn als Schuldigen an der Anarchie der
1990er-Jahre.
Um die Finanzierung für seine Stiftung zu sichern, trat er in jener Zeit als Darsteller für einen Pizza-Hut-Werbespot auf - welch eine Demütigung für einen Friedensnobelpreisträger, der
die Welt verändert hatte. Interviews gab er in der Regel nur noch gegen Honorar. Als ich
Gorbatschow 1999 das erste Mal selbst begegnete - bei der Trauerfeier für seine von ihm über alles geliebte Ehefrau Raissa - wirkte er wie ein gebrochener Mann. Damals kamen
noch viele deutsche Spitzenpolitiker nach Moskau, um ihm zu kondolieren. Als er nach der Jahrtausendwende den Westen immer deutlicher für dessen neuerlichen Konfrontationskurs gegenüber
Russland zurechtwies und den deutschen Medien vorwarf, ein Zerrbild seines Landes zu zeichnen, fiel er auch dort zunehmend in Ungnade.
Der letzte Generalsekretär der KPdSU hat - und das ist nicht übertrieben - mein ganzes Leben entscheidend geprägt, und auch das vieler meiner Freunde und Bekannten. Dank seiner Politik öffneten sich auch für uns
junge Deutsche im Westen erstmals viele Türen in den Osten, einige sind hindurchgegangen. Ohne Gorbi wäre ich 1990 kaum als
Jugendlicher in die Sowjetunion gelangt, mit allem, was daraus entwuchs. Er war der erste und einzige Politiker, den ich aufrichtig verehrte. Trotz all seiner Irrungen und
Fehler war und blieb der bescheidene Chef einer Supermacht mit dem markanten Feuermal auf dem Kopf mein Idol - seit der Jugend und bis heute. Danke für die offenen Türen, danke für die
gesprengten Mauern, danke für die Jahre der Hoffnung!
(kp, 31.8.2022)