"Lieber sterbe ich in Russland, als mich von den Deutschen retten zu lassen."
Kaiserin Alexandra Fjodorowna (1872-1918), Ehefrau des letzten russischen Zaren, geboren als Prinzessin Alix von Hessen
Trotz der unvorstellbaren Gräuel, die deutsche Soldaten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu verantworten hatten, war das Deutschlandbild in Russland lange Zeit fast durchweg positiv. Die Deutschen genossen außergewöhnlich große Sympathien, wie ich im Laufe der Jahre immer wieder erstaunt feststellen konnte. Seit der Krieg in der Ukraine 2022 eskalierte und Politiker beider Länder nur noch über öffentlichkeitswirksame Drohungen miteinander kommunizieren, haben nicht nur die politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten einen Tiefpunkt erreicht. Auch die Einstellung der Russen hat sich rasant geändert. Dies machte eine im Herbst vorgestellte Studie des russischen Meinungsforschungsinstituts "Levada Center" deutlich.
Für die von der Deutschen Sacharow-Gesellschaft in Auftrag gegebene und finanziell unter anderem vom Auswärtigen Amt unterstützte Studie hatte Levada 1.600 repräsentativ ausgewählte Personen befragt. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Mittlerweile hält fast die Hälfte der Befragten Deutschland für eines der Länder weltweit, die Russland gegenüber am feindseligsten eingestellt sind. Die Bundesrepublik liegt damit zwar hinter den USA und auch noch knapp hinter Großbritannien, wird aber sogar noch häufiger zum feindlichen Staat erklärt als selbst die Ukraine. Gaben in den Jahren vor 2014 noch stabil weit über 70 Prozent der Russen an, persönlich hätten sie ein gutes Verhältnis zu Deutschland, so schrumpfte deren Anteil auf unter 30 Prozent, während über 60 Prozent mittlerweile mit "sehr schlecht" oder "eher schlecht" antworteten. Auch bei Fragen nach dem Verhältnis zu "den Deutschen" lässt sich ein dramatischer Abfall der Sympathiewerte belegen. Selbst die deutsche Wiedervereinigung wird mittlerweile ebenso vielen Menschen befürwortet wie abgelehnt. Noch vor einigen Jahren war die Überwindung der deutschen Teilung fast ausnahmslos als positives Ereignis eingeschätzt worden. Gefragt, was sie am ehesten mit Deutschland verbinden, fielen übrigens auch 2024 noch mit Abstand am häufigsten die Stichworte Zweiter Weltkrieg und Faschismus. Deutsche Autos, Bier, Würstchen, Oktoberfest, Genauigkeit und Pedanterie folgten erst mit großem Abstand.
Für die gravierenden Veränderungen beim Deutschland-Bild der Russen macht Levada im Wesentlichen eine einzige Ursache aus: "Die systematische und fast totale staatliche Propaganda hat es
geschafft, der Bevölkerung die Vorstellung von der 'Natürlichkeit' der historischen Konfrontation zwischen Deutschland und Russland, die These von der feindlichen Haltung Deutschlands
gegenüber Russland aufzudrängen." An dieser Stelle lässt die Analyse der Meinungsforscher dann doch etwas zu wünschen übrig. Denn sie lässt zahllose Handlungen und
Äußerungen der deutschen Seite mal eben vom Tisch fallen: Dass die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die Devise ausgab, Russland ruinieren zu wollen (Bericht z.B. hier) und dem Land später mal nebenbei
versehentlich den Krieg erklärte (Bericht z.B. hier), dass die Schikanen der deutschen Visastellen selbst deutsch-russische Familientreffen
unmöglich machen und dass der deutsche Zoll 2023 ohne Vorwarnung begann, die privaten Pkws russischer Reisender zu konfiszieren (Bericht z. B. hier). Die Reihe ließe sich noch problemlos fortsetzen. Auch, wer
ausschließlich westliche Qualitätsmedien konsumiert, kann nicht zu dem Schluss kommen, all dies sei nicht feindselig.
Zweifellos zeichnen russische Medien ein teilweise groteskes Zerrbild von Deutschland (so wie auch viele deutsche Leitmedien seit über 20 Jahren ein Zerrbild von
Russland verbreiten). Bei meinen jüngsten Russland-Reisen wurde ich beispielsweise regelmäßig mit einer Mischung aus
Entsetzen und Mitgefühl über das vermeintlich von Flüchtlingen angerichtete Chaos in Deutschland ausgefragt. Die Vorstellung eines Landes, dass mit unkultivierten und kriminellen Migranten völlig
überfordert ist, hat sich bereits in den Köpfen der Russen festgesetzt, als das Narrativ in der Bundesrepublik lediglich von AfD und Rechtsextremisten verbreitet wurde und noch nicht im
politischen Mainstream angekommen war. Freunde sprachen mich darauf ebenso an wie Taxifahrer. Ein zweites Thema, das in russischen Medien schon seit Jahren extrem breitgetreten wird, sind die
Auswüchse der LGBT-Ideologie in deutschen und anderen westlichen Staaten. Bei dem Thema können sich die Medienmacher sicher sein, dass Kritik an den deutschen Verhältnissen im konservativen
Russland von einer breiten Mehrheit geteilt wird.
Allerdings ist die im Westen verbreitete Vorstellung, die Menschen in Russland würden völlig unreflektiert alles glauben, was ihnen die Moderatoren der staatlichen Sender erzählen, auch
ein ganzes Stück weit naiv. Tatsächlich sind viele Menschen in Russland nach jahrzehntelanger Lebenserfahrung mit sowjetischen und postsowjetischen Medien sehr sensibel, was
Meinungsmache und Propaganda angeht. Das kommt der Bundesrepublik im aktuellen Propagandakrieg sogar zugute. Mehrfach haben wir beispielsweise erlebt, dass selbst Bekannte weder ihren
Staatsmedien, noch unseren persönlichen Erfahrungsberichten über die wachsenden Missstände in der öffentlichen Infrastruktur, die katastrophale Situation bei der Deutschen Bahn oder
die monatelangen Wartezeiten auf einen Arzttermin glauben. Trotz der Stimmungsmache über den Niedergang des Westens hält sich die Vorstellung vom perfekt organisierten
Deutschland und den pünktlichen Deutschen hartnäckiger als die Fakten es rechtfertigen.
Der Entfremdungsprozess, der nicht nur Staaten, sondern auch die Gesellschaften wieder in einen Zustand der Konfrontation treibt, begann schon Jahre, bevor der Ukraine-Krieg eskalierte. "Die
Russen bemerken, dass Deutschland seine Politik gegenüber Russland geändert hat", warnte der Osteuropa-Historiker Alexander Rahr bereits vor Kriegsausbruch in seinem Buch "Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt". Beide Seiten hätten bereits seit
2013/2014 keinen Dialog mehr miteinander geführt, sondern nur noch Monologe übereinander. Alle seit Michail Gorbatschows Entspannungspolitik gemachten Errungenschaften in den Beziehungen
wähnte Rahr in Gefahr - zu Recht, wie wir mittlerweile wissen.
Mit ihrer Abschottungspolitik gegen alle russischen Bürger seit der Covid-Pandemie und noch stärker seit dem russischen Angriff auf die Ukraine tut auch Deutschland weiterhin alles
Menschenmögliche, um diese Tendenz zu verfestigen. Nicht einmal Begegnungen zwischen Künstlern, Sportler oder Wissenschaftlern sind mehr gewollt, die selbst zu Zeiten schärfster
Ost-West-Konfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg stattfanden.
Als Folge des neuen Eisernen Vorhangs verschwindet nicht nur die Sympathie der Russen für Deutschland, sondern auch das Interesse an dem Land - und an seiner Sprache. Lehrbücher für
Chinesisch hätten der Literatur für Deutsch-Lernende den Rang abgelaufen, meldete die russische Nachrichtenagentur RBK bereits Ende 2023 (Meldung
Russisch). Die Verkaufszahlen für Deutsch-Materialien brachen 2023 um fast 30 Prozent ein. Und auch an den russischen Hochschulen, wo Studenten unabhängig von der Fachrichtung immer
auch eine Fremdsprache intensiv lernen, gibt es immer weniger Nachfrage nach Deutsch.
Als einziger Lichtblick bleibt, dass sich die absolute Mehrheit der Russen (79 Prozent) laut Levada-Umfrage die Wiederherstellung freundschaftlicher, gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu
Deutschland wünscht, auch wenn die meisten dies derzeit für unrealistisch halten.
Die russische politische Elite hat zumindest keine Vorstellung wie dies gelingen soll. Für den Fall eines Wahlsieges von Friedrich Merz drohe sogar eine noch weitere Verschlechterung der Beziehungen, heißt es im vertraulichen Teil einer Deutschland-Analyse des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, aus dem die Tagesschau im Oktober berichtete. Bundeskanzler Scholz werde in diesem Zusammenhang als "noch der Beste unter den Bösen" eingestuft, weil er trotz des massiven Drucks bislang wenigstens keiner Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine zugestimmt habe.
Allerdings sehen die russische Deutschland-Kenner dem Bericht zufolge in allen Parteien mit Ausnahme der Grünen auch Kräfte, die einen pragmatischeren Russland-Kurs einschlagen könnten. Um irgendwie wieder ins Gespräch zu kommen, rege das interne Deutschland-Dossier an, Beziehungen zum BSW aufzubauen und wieder Kontakte zu den deutschen politischen Stiftungen zu knüpfen, maßgeblich zur SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Allerdings war auch die 2022 von Russland zur "unerwünschten Organisation" erklärt worden. Jegliche Formen der Zusammenarbeit können seither für russische Staatsbürger strafrechtliche Konsequenzen haben.
kp, aufgeschrieben am 20.10.2024