"Die unbegreifliche Tiefe und Grenzenlosigkeit des Himmels lässt sich nur am Meer ermessen - und in der nächtlichen Steppe bei Mondschein."

Anton Tschechow, russischer Dichter (1860-1904)

 

Kaviar, Kamele und Kalmücken - Reisebericht Astrachan und Elista

Acht Tage unterwegs im "anderen" Russland

Indischer Lotos statt Birkenwäldern, Pagoden-Dächer statt Zwiebeltürmen – der äußerste Südosten des europäischen Russlands hält für Reisende so einige Überraschungen bereit. Wo zwischen endlosen Steppen und Halbwüsten die Wolga gemächlich in Richtung Kaspisches Meer strömt, verschwimmen unter der brütend heißen, flimmernden Sommersonne allmählich Europa und Asien. Wer diese Gegend

besucht, durch die einst die Reiterheere der Chasaren und Mongolen zogen, dem erscheinen Moskau oder St. Petersburg zuweilen so weit entfernt wie fremde Sterne. Im August 2015 wollten wir unseren Kindern ein wenig von diesem exotisch-anderen Russland zeigen.

Lotos Wolga Delta лотос Дельта Волги
Lotos-Blüte im Wolgadelta

Unsere Route:

Im Sommer 2015 haben wir wegen eines notwendigen Arbeitsurlaubs auf dem schwiegermütterlichen Anwesen bei Moskau nur eine Woche Zeit für eine Rundreise. Unsere Route führte uns ins 20 Stunden Bahnfahrt von der russischen Hauptstadt entfernte Wolgograd und weiter bis nach Astrachan. Einige Tage lang erkundeten wir die letzte Wolga-Metropole vor dem Kaspischen Meer und ihre Umgebung, bevor wir

einen kurzen Abstecher in die buddhistisch geprägte autonome Republik Kalmückien machten. Über die Republik-Hauptstadt Elista ging es zurück nach Wolgograd und Moskau. Insgesamt haben wir auf diese Weise – die Flüge von Frankfurt nach Moskau und zurück nicht eingerechnet – mit Zug, Bus und Taxi rund 4.000 Kilometer zurückgelegt.

Von den sieben Nächten verbrachten wir zwei im Schlafwagen, vier im empfehlenswerten Mini-Hotel "Astra Inn" in Astrachan und eine im "Bike Post Motel" in Elista, beides vorab über eine bekannte Hotel-Buchungsseite organisiert.

Wolgograd

Волгоград

Wolgograd Mutter Heimat Mamai Hügel Mamajew Kurgan
In der Gedenkstätte auf dem Mamai-Hügel in Wolgograd

Für die Reise in den Süden haben wir vier Schlafwagenplätze für den Schnellzug Nr. 1 gebucht, der uns zunächst nach Wolgograd bringt. Knapp 20 Stunden dauert die Fahrt. Wir reisen auf zwei Schlafwagen-Abteile verteilt, wobei unser Sohn und ich die Gesellschaft zweier älterer Damen genießen, die mit Geheimdienstlern oder Militärs verheiratet sind. Unentwegt tauschen sie sich über ihre Krankheiten und die Qualität der Armee-Sanatorien aus. Mehr Spaß macht da ein Besuch im Speisewagen.

Die Millionenstadt Wolgograd zieht sich über mehr als 70 Kilometer am rechten Wolgaufer entlang und könnte vermutlich mit Erfolg die Aufnahme ins Guiness-Buch der Rekorde als längste Stadt Europas beantragen. Das einstige Stalingrad wirkt ziemlich sowjetisch und scheint ganz in der Vergangenheit zu leben. Alles hier dreht sich irgendwie um den Krieg und die kriegsentscheidende Schlacht.

Direkt vor dem Bahnhof steht ein Nachbau des legendären Barmaley-Brunnens. Das Reporter-Bild der um ein Krokodil tanzenden Kinderfiguren vor dem Hintergrund brennender Häuser ist wohl eine der bekanntesten Weltkriegs-Foto-Ikonen überhaupt.

Hauptanziehungspunkt für alle Besucher der Stadt ist die monumentale Gedenkstätte auf dem Mamai-Hügel mit der riesigen Statue „Mutter Heimat ruft“. Am Fuß der einst heftig umkämpften Anhöhe wirkt das Denkmal, das mit seinen 85 Metern Höhe die New Yorker Freiheitsstatue übertrifft, zunächst gar nicht so groß, es scheint vielmehr zu wachsen, je mehr man sich ihm nähert. Viele der Besucher haben rote Nelken mitgebracht, um sie an den Soldatengräbern oder an den riesenhaften Füßen der „Mutter Heimat“ abzulegen.

Unser nächstes Ziel ist das zentrale Museum der Stalingrader Schlacht mit seinem, in eine Art Kühlturm hineingemalten Monumentalgemälde. Die kühlen Museumskatakomben haben einen großen Vorteil, denn draußen zeigt das Thermometer stolze 38 Grad im Schatten. Bis zur Weiterfahrt am späten Nachmittag retten wir uns mit kurzen Märschen von einem Eis- oder Getränkestand zum nächsten.

Astrachan

Астрахань

Astrachan Zentrum Kreml
In der Innenstadt von Astrachan

Im Zug nach Astrachan sind wir dann noch einmal fünf Stunden unterwegs, die Großraumwagen ohne Liegen sind nicht klimatisiert und es ist ziemlich heiß. Die Strecke führt über den gewaltigen Wolga-Staudamm und weiter durch die fast menschenleere Steppe. Das Ziel erreichen wir spät nachts. Unsere Unterkunft, das „Mini-Hotel Astra Inn“ entpuppt sich als Glücksgriff - alles ist ganz neu renoviert, die Zimmer sind riesig. Hotelchef Anton und seine Familie geben sich Mühe mit allem, und das für rund 30 Euro pro Doppelzimmer. Bis zum imposanten Kreml der Stadt sind es auch nur einige Schritte. Kein Vergleich zu meinem ersten Besuch in der Stadt im fernen 1998!

 

Die prächtige Kreml-Kathedrale galt Peter dem Großen als schönste Kirche seines Zarenreiches. Trotzdem sind kaum Touristen in der sehenswerten Stadt, ein paar Deutsche treffen wir bei den Souvenirständen aber doch noch. Am Vortag war uns das rote Feuerwehrauto aus Hannover bereits in Wolgograd aufgefallen. Die Fahrer bringen das alte Fahrzeug als humanitäre Hilfe ins ferne Tadschikistan. Astrachan ist ihre letzte Station vor den Wüsten Zentralasiens.

 

Auch im Straßenbild fällt auf, dass Kasachstan und Kaukasus nicht mehr weit sind. Russen bilden nur gut die Hälfte der Bevölkerung in der Stadt. Direkt gegenüber von unserem Hotel beginnt das muslimische Tataren-Viertel mit seinen bunten Moscheen. Astrachan ist Multikulti seit Jahrhunderten: An der Grenze zwischen Europa und dem Orient unterhielten einst sogar Perser und Inder eigene Kaufmannskontore. Bis heute bringen Schiffe Waren aus dem Iran und Mittelasien über das Kaspische Meer. Reich wurde die Stadt auch durch den schwarzen Kaviar

der Störe. Mittlerweile sind die Fische im Wolgadelta durch Wilderer nahezu ausgerottet, aber es gibt mehrere Störfarmen, die die begehrte Delikatesse legal herstellen und meist dazu übergangen sind, die Fische zu melken statt ihnen die Bäuche aufzuschlitzen. Die kleinen Fischeier sind auch hier jedoch sündhaft teuer.

Wolgadelta

Дельта Волги

Lotos Wolga Delta
Lotosfeld im Delta

Am Tag darauf starten wir zu einem Ausflug ins Wolgadelta. In der Nähe der Ortschaft Ikrjanoje (auf Deutsch: „Kaviardorf“) wartet ein Boot, das uns vier in eine faszinierende Landschaft bringt, wo die Wolga sich in unzählige seichte Arme aufspaltet.

Über dem Wasser schwirren Seeschwalben, an den Ufern sonnen sich die Schildkröten. Größte Attraktion dieser eigentümlichen Welt sind die rosafarbenen Lotosblumen, die eigentlich in Süd- und Ostasien heimisch sind, in großen Feldern aber auch an der unteren Wolga vorkommen und gewöhnlich bis Anfang September in Blüte stehen. Der Lotos steht unter strengem Schutz, breitet sich derzeit aber schnell im Delta aus. Für Buddhisten und Hindus gelten die Pflanzen als Symbol der Reinheit, da von den kelchförmigen Blättern alle Wassertropfen abperlen. Unser Kapitän Ruslan steuert sein kleines Motorboot behutsam an den Rand des Lotosfeldes,

lässt uns an den Blüten riechen und ein wenig die Stille genießen. 

Als ich 2001 die Dreharbeiten für eine Wolga-Doku von „Arte“ begleitete, erschien mir die Gegend als Paradies auf Erden. Fast wie im Paradies fühle ich mich auch jetzt – mit der Einschränkung, dass wir damals im Nationalpark auch unzählige Schwäne, Seeadler und Pelikane sehen konnten. Die gibt es im stärker besiedelten Teil des Deltas nicht.


Ein Besuch in der Nationalpark-Zone ist zwar unter Umständen auch möglich, aber mit mehr bürokratischem Aufwand verbunden. Wer eine Bootstour bis zum Kaspischen Meer oder in die unmittelbare Nähe der Grenze zu Kasachstan unternehmen will, benötigt außerdem auch noch eine Erlaubnis vom Grenzschutz. Reisebüros vor Ort können das u.U. organisieren, benötigen aber zeitlichen Vorlauf.


Der Besitzer unseres Hotels in Astrachan betreibt am Bootsanleger eine kleine Ferienanlage, in der sich vor allem Angler einmieten. Dort gibt es sogar einen leicht rustikalen Strand, den sich die Gäste mit Pferden und Kühen teilen. Trotz einiger Zweifel an der Wasserqualität steige auch ich dort erstmals in Europas längsten Fluss. Auf der Heimfahrt besuchen wir noch einen Salzsee und die Geisterstadt Tinaki, die

einst ein florierender Heilkurort gewesen sein soll. Noch immer kommen Menschen in die aufgegebene Siedlung und holen sich Eimer voller schwarzem Schlamm, der unter der Salzkruste lagert.

Sarai-Batu

Сарай-Бату

Sarai-Batu Astrachan Goldene Horde Filmkulissen Сарай-Бату
Nichts an den Bauten von Sarai-Batu ist echt, aber der Standort ist authentisch.

Für unseren Delta-Ausflug hatten wir mit Gennadi wir einen ziemlich coolen Typ als Begleiter: Er ist nicht nur ein guter Fahrer, sondern auch ein kurzweiliger Gesprächspartner, denn er war schon Punker, Designer und Soldat einer Spezialeinheit, außerdem ist er Chef eines auf deutsche Ritter spezialisierten Mittelalter-Clubs. Perfekte Grundlagen, um mit ihm eine zweite Tour zu starten, die nach Sarai-Batu in die Steppe führt. Dass sich in der Einöde vor 700 Jahren eine der größten Metropolen der Welt mit bis zu 100.000 Einwohnern befand, ist schwer zu glauben. Doch genau hier lag die

Hauptstadt der Goldenen Horde, der Erben Dschingis Khans. Bis vor kurzem gab es hier nur noch Gras und Wind, dann erstand die Stadt aus dem Nichts wieder auf.

 

Für einen Historienfilm war nahe am historischen Standort eine Mini-Version des alten Sarai Batu mitsamt Khans-Palast, Marktplatz, Sklaven-Baracken und Moschee aufgebaut worden. Später blieben die Kulissen in der Steppe stehen und ziehen seither Touristen an. 

Eine potemkinsche Mongolen-Hauptstadt zwar, die von außen lediglich aus Brettergerüsten besteht, aber von Innen durchaus authentisch wirkt, denn die Filmleute hatten immerhin wissenschaftliche Berater engagiert. Besucher können sich hier heute in Mongolen-Trachten kleiden und Bogen schießen. Zum Glück gibt es auch Kamele, worauf unsere Kinder den ganzen Tag gehofft hatten. Der Leitbulle der Trampeltier-Herde hört auf den Namen Jascha und ist sehr gutmütig.

Wir hatten Gennadi gebeten, uns auch noch zu einigen Sanddünen in der Gegend zu bringen, um ein wenig das Gefühl auszukosten, in einer echten Wüste zu sein. Unser Fahrer beschließt nach eingehendem Studium der Internet-Satellitenfotos, dass es in der Umgebung von Sarai Batu nicht spektakulär genug ist und fährt kurzerhand auf die gegenüberliegende Seite der Wolga. Nördlich von Narimanow zeigt er uns nach

abenteuerlicher Fahrt über eine buckelige Sandpiste seine persönlichen Lieblingsdünen. Die reichen bis direkt an die Wolga heran. Am Abend hat der robuste chinesische Wagen („Geely“) rund 400 statt der geplanten 250 Kilometer mehr auf dem Tacho.

Elista

Элиста

Elista Churul buddhistischer Tempel Goldene Heimstätte des Buddha Shakyamuni
Die Goldene Heimstätte des Buddha Shakyamuni in Elista

Nach vier Nächten sagen wir dem Hotel-Team des „Astra Inn“ Do Swidanija und setzen uns in einen Linien-Minibus, der uns ins 320 Kilometer entfernte Elista bringen soll. Die Gegend wird nun noch einsamer, auf dem ersten Abschnitt sorgen immer wieder Salzseen für spektakuläre Aussichten.

Bald ist die Grenze zu Russlands autonomer Republik Kalmückien erreicht. Diese dünn besiedelte Provinz ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Es ist die einzige traditionell buddhistische Region Europas mit mehrheitlich mongolischer Bevölkerung. Schach ist Pflichtfach an allen Schulen. Einzigartig in Europa sind auch die drolligen, leider sehr seltenen Saiga-Antilopen. 

Hauptattraktion der Steppen-Hauptstadt Elista ist die „Goldene Heimstätte des Buddha Shakyamuni“, der vor zehn Jahren eingeweihte große buddhistische Tempel. In seinem Inneren befindet sich ein neun Meter hoher goldener Buddha. In dem faszinierenden Gebetssaal mit seinen bunten Wandbildern der Dalai Lamas, von Dämonen und Schutzgeistern herrscht leider Fotoverbot, aber ansonsten steht die Anlage allen Interessierten offen. Die Frage, ob es sich für Protestanten geziemt, die Gebetstrommeln mit den darauf geschriebenen tibetischen Mantras zu drehen, führt zu einem kleinen theologischen Disput in der Familie, aber ich finde es ok.

Alle Tempel, in der Landessprache „Churul“ genannt, sind Neubauten, denn in der Stalin-Zeit war das gesamte Volk der Kalmücken nach Sibirien deportiert worden. Alle Spuren der kalmückischen Kultur und Religion wurden dabei vernichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg durften die Menschen zwar in ihre Heimat zurück, aber erst seit der Wende werden die alten Traditionen wiederbelebt. Das ist vor allem in Elista zu spüren. Ein Drittel der 300.000 Einwohner Kalmückiens lebt in der Provinzhauptstadt, die seit rund 20 Jahren zunehmend umgestaltet wird. Das Stadtbild des einst trostlosen Provinznestes bekam einen recht fernöstlichen Einschlag.

So wurde das Monument für den Führer des Proletariats auf dem Lenin-Platz an den Rand versetzt und am alten Standort die „Pagode der sieben Tage“ errichtet. Auf dem Weg zum Busbahnhof stößt man auf die „Stupa der Erleuchtung“. Wer sie im Uhrzeigersinn umrundet, heißt es auf einem Schild, dem werde diese „gute Tat“ hoch angerechnet, außerdem helfe ein Gang um die Stupa dabei, Streitigkeiten zu beenden.

Leider ist Kalmückien nicht nur eine der exotischsten Regionen Russlands, sondern auch eine der ärmsten. Die Wirtschaft hat außer Schafzucht kaum etwas vorzuweisen, für uns hat das den Vorteil, dass hier alles unverschämt günstig ist, z.B. Essen. Für ein Mittagessen mit Getränken zahlen wir in einem Selbstbedienungsrestaurant knapp acht Euro (zu viert!).

Sogar für die 300 Kilometer weite Rückfahrt zum Bahnhof nach Wolgograd können wir uns noch einmal ein Taxi leisten. Zwischen dem exotischen Kalmückien und der sowjetischen Millionenstadt an der Wolga liegen rund vier Stunden Fahrt durch die Steppe. Obwohl wir schon an der Stadtgrenze in einen gewaltigen Stau geraten, erreichen wir den Bahnhof noch rechtzeitig, um Proviant zu kaufen und zu unserem Nachtzug nach Moskau gelangen. Am folgenden Nachmittag sind wir bereits wieder in der russischen Hauptstadt.


Passend zum Thema in unserem Russland-Reiseblog:


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