"Krieg ist eine derart ungerechte und schlechte Sache, dass beim Kämpfen alle versuchen, ihr Gewissen zu betäuben."
Lew Tolstoi (1826-1910), russischer Schriftsteller, Tagebucheintrag von 1853
Die "historische Wahrheit" sei auf der Seite Russlands, verkündete Staatschef Wladimir Putin in seiner martialischen Neujahrsansprache aus einem Militärhauptquartier. "Auch Gott selbst steht auf unserer Seite", hielt der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, dagegen. Jenseits der schwülstigen Propaganda ist längst klar: Der Ukraine-Krieg kennt - zumindest auf dem europäischen Kontinent - nur Verlierer. Dennoch wollen die politischen Entscheidungsträger in Moskau, Kiew und den Hauptstädten des Westens, dass er weitergeht, weil sie alle sich an unrealistische Ziele klammern. Also wird er weitergehen. Wie könnte sich der blutige Konflikt, der die Welt 2022 nach dem russischen Überfall aus den Fugen gehoben hat, im neuen Jahr fortentwickeln?
Nun ist es ein undankbares Unterfangen, Prognosen über den Verlauf militärischer Auseinandersetzungen aufzustellen (eine Binsenweisheit, die am 24. Februar 2022 noch einmal vielen schmerzlich bewusst wurde). Denn Außenstehenden werden im Krieg immer entscheidende Informationen über Verluste, Ressourcen und tatsächliche Strategien und Kriegsziele vorenthalten. Vom "Nebel des Krieges" sprach schon Preußen-General von Clausewitz, der zu bedenken gab, dass selbst den Befehlshabern in jedem Krieg immer wichtiges Wissen fehle. Aber mittlerweile, nach dem ersten Jahreswechsel im Kriegsmodus, scheinen einige Annahmen so plausibel, dass ein Ausblick auf die Zukunft erlaubt sei.
Wann und wie die seit Monaten tobende Schlacht um die Ruinen von Bachmut (russisch: Artjomowsk), das neue Verdun im Osten, enden wird, lässt sich derzeit nicht abzuschätzen. Für den Ausgang des Ukraine-Krieges spielt es letztlich jedoch keine entscheidende Rolle, ob den russischen Streitkräften nach der erfolgten Teilmobilmachung noch einmal größere Geländegewinne in der Ostukraine gelingen. Eine Einnahme von Gebieten am rechten Dnjepr-Ufer wie der Hauptstadt Kiew oder Odessa am Schwarzen Meer liegt aktuell in unendlich weiter Ferne. Ein Zusammenbruch des ukrainischen Staates ist ebenfalls unwahrscheinlich, solange dorthin und für den Krieg aus dem Westen weiter Gelder in solch astronomischer Höhe gepumpt werden, wie gerade erst die 45 Milliarden Dollar aus den USA für 2023 (Bericht z.B. in der "Presse"). Gemessen an den selbst erklärten Plänen hätte Russlands Staatschef Wladimir Putin damit in jedem Fall seine zentralen Kriegsziele verfehlt: Von russischer Seite wurde der Feldzug gegen den Nachbarstaat vor allem mit zwei Motiven begründet - mit der deklarierten Notwendigkeit, die Ausdehnung des US-geführten Militärblocks zu stoppen und mit der Sorge um russische "Landsleute" in der Ukraine.
Mittlerweile dürften die Strategen im Kreml es ahnen: Egal, wo einmal irgendwann neue Grenzen oder Demarkationslinien verlaufen werden - jenseits dieser Linie wird die russische Führung
weiter mit einem extrem feindlich gesonnenen, hochgerüsteten ukrainischen Staat konfrontiert sein - mit einer nationalistischen, russophoben Elite an der Spitze und einer vom Krieg
traumatisierten Bevölkerung voller Hass auf die Angreifer. Dass in einer solchen Ukraine wieder Kräfte an die Macht gelangen, die von der totalen Westanbindung abrücken, ist nur
schwer vorstellbar. Russische Sprache und Kultur in der Ukraine, als deren Schutzmacht Moskau sich darstellte, und mittlerweile selbst die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche stehen als Folge des
Krieges unter einem größeren Druck als je zuvor. Das zur Jahreswende in Odessa abgerissene Denkmal für die Gründerin der Stadt, Zarin Katharina die Große (Bericht Euronews,
Russisch), dürfte nicht die letzte Episode des wahnwitzigen Bildersturms bleiben.
Und das ist noch nicht alles: Auch die nächste Runde der von Russland als Bedrohung empfundenen Nato-Osterweiterung ist unumkehrbar. In direkter Nachbarschaft zur russischen Metropole
St. Petersburg liegt nun nicht mehr das einst ruhige Finnland, zu dem Russland lange relativ gute nachbarschaftliche Beziehungen
unterhielt, sondern der neue militärische Junior-Partner der Amerikaner mit 1.340 Kilometern gemeinsamer Grenze (einige schmutzige Deals werden mit Sicherheit
für die bislang noch ausbleibende Zustimmung der Türkei sorgen).
Vor diesem Hintergrund ist Putins Kriegspolitik für Russland ein Debakel von historischem Ausmaß. Und dabei sind die innenpolitischen Verwerfungen, Russlands Umbau zur lupenreinen Diktatur und die Isolation von bedeutenden Teilen der Weltwirtschaft, noch gar nicht erwähnt!
In Kiew, Berlin und Brüssel wird von vielen weiter unreflektiert das Mantra vom Sieg der Ukraine gesungen. Dabei wird nach Kiewer Lesart unter Sieg mittlerweile die militärische Rückeroberung sämtlicher seit 2014 verlorener Gebiete inklusive der Krim verstanden. Glaubt man der proukrainischen Propaganda, dann steht der Triumph kurz bevor. Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes Kyrylo Budanov legte sich in einem (unglaublich unprofessionell geführten) Interview mit einer abc-Korrespondentin (Englisch) recht genau fest: Putin werde zwar schon bald an Krebs sterben, aber vorher werde die Ukraine noch unabwendbar den Krieg gewinnen, und zwar 2023. Der pensionierte US-General Ben Hodges, auf den in Deutschland manche große Stücke halten, ist bereits widerlegt. Er hatte sich im Herbst 2022 mit der Prophezeiung hervorgewagt, dass die Ukrainer die russischen Streitkräfte bis Ende des Jahres komplett "zurück zur Linie des 23. Februar drängen" würden (Bericht ntv).
Deutlich ehrlicher war im November dagegen bereits US-Generalstabschef Mark Milley, der die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Sieges in näherer Zukunft als "nicht hoch" einstufte (Bericht z.B. bei ZDF.de). Tatsächlich wirkt die Vorstellung, dass die Ukraine bald wieder zu ihren Grenzen von 1991 zurückfinden könnte, in etwa so realistisch wie ein Plan, Jugoslawien wieder zusammenzukleben. Russland hat sich von der irren Idee verabschiedet, die Ukraine im Handstreich übernehmen zu können, und stattdessen seinerseits mobilgemacht (was auf andere Weise natürlich auch irre ist, so, wie der gesamte Angriff es war). Die Ressourcen der Russischen Föderation an Kanonenfutter dürften die ukrainischen letztlich deutlich übersteigen. Dass deutsche Leitmedien in der Regel nur über die Kriegstoten unter den russischen Soldaten, aber ungern bis gar nicht von den Verlusten der ukrainischen Streitkräfte berichten möchten, bedeutet nicht, dass es letztere nicht geben würde. Noch verfügt die russische Armee zudem über Möglichkeiten, der ukrainischen Infrastruktur schwere Verwüstungen zuzufügen, alle Prognosen, die Russen hätten keine Raketen mehr, haben sich bislang als nicht von den Fakten gedeckte Durchhalteparolen erwiesen.
Außerdem gilt auch: Im Donbass, wo in den seit 2014 von den Separatisten gehaltenen Gebieten umfangreiche Verteidigungsstellungen ausgebaut wurden, erst recht aber
auf der Krim warten längst nicht alle Menschen sehnsüchtig auf eine Rückkehr der Kiewer Staatsmacht und ihrer Soldaten. Der Versuch einer Rückeroberung wäre in
dem hypothetischen Fall, dass er gelingen würde, nur um den Preis anschließender, großangelegter ethnischer Säuberungen denkbar.
Schon vor dem russischen Angriff war der nach Russland zweitgrößte Flächenstaat Europas das Armenhaus des Kontinents. Inzwischen ist die ukrainische Industrie
verwüstet. Dass das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine 2022 wohl um "lediglich" 30 Prozent eingebrochen sei, wurde von Wirtschaftsexperten sogar noch als Erfolg gewertet
(Bericht RBK-Ukraina, Russisch/Ukrainisch). Millionen Menschen sind auf der Flucht um die halbe
Welt. Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR (Bericht Englisch) zufolge haben derzeit fast acht der zuletzt
(ohne Krim) knapp 42 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine Zuflucht im Ausland gefunden. Mutmaßlich würden unzählige weitere lieber
heute als morgen das Land verlassen, wenn die Kiewer Führung nicht allen wehrfähigen Männern die Flucht verboten hätte (aktuelle Regeln zum Ausreiseverbot z.B. bei nv.ua,
Russisch/Ukrainisch). Je länger der Krieg dauert, desto mehr Ukrainer werden sich in
Westeuropa oder anderswo einrichten und desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie jemals wieder in ihr kaputtes Heimatland zurückkehren wollen.
Die Fortführung des Krieges kann realistisch betrachtet für keine der auf dem europäischen Kontinent verorteten direkten und indirekten Kriegsparteien ein gutes Ende nehmen. Mit der Annexion der Donbass-"Volksrepubliken" und der Verwaltungsgebiete Cherson und Saporoschje bzw. Saporischschja, die Russland kurioserweise noch nicht einmal vollständig unter Kontrolle nehmen konnte, und der demonstrativen Absage an eine Verhandlungslösung durch Kiew und die westlichen Geldgeber der Ukraine scheint jeder Ausweg verbaut. Die Ukraine hofft auf immer neue, immer tödlichere Waffen aus dem Westen. Der Westen hofft vermutlich noch immer darauf, mit seinem Wirtschaftskrieg Russland zu "ruinieren". (Warum der angestrebte Ruin nicht so bald eintreten dürfte, hatte dieser Blog bereits im Sommer beschrieben). Russland schließlich hofft darauf, mit den Angriffen auf Stromnetz und Infrastruktur die Ukrainer zu zermürben und in der Auseinandersetzung mit dem Westen einfach länger durchzuhalten als die durch die Kriegsfolgen ebenfalls gebeutelten EU-Staaten, deren Regierungen sich in der Mehrzahl um ihre Wiederwahl Sorgen machen müssen.
Daraus folgt das in meinen Augen aktuell wahrscheinlichste Szenario für den weiteren Verlauf des Konflikts - vorausgesetzt, es gelingt weiter, den Schritt zur umfassenden atomaren Apokalypse
zu vermeiden, was längst nicht garantiert ist: Russen und Ukrainer werden sich solange weiter beschießen und bombardieren, bis beide Seiten gleichermaßen erschöpft sind. So,
wie es derzeit aussieht, könnte es auf russischer Seite erst in vielen Jahren so weit sein, wenn die Ukraine bereits komplett in Trümmern liegt.
Dann könnte der Ukraine-Krieg ähnlich abebben wie der Korea-Krieg. Auch der hatte Elemente von Angriffs-, Bürger- und Stellvertreterkrieg in
sich vereint und führte 1953 nach einer Reihe dramatischer Wendungen mit ständiger Gefahr der atomaren Eskalation bekanntermaßen zu einem Waffenstillstand und dauerhafter Teilung an einer
Demarkationslinie, die dem damaligen Frontverlauf und in etwa dem Zustand bei Kriegsbeginn entsprach. Die Menschen auf beiden Seiten
dieser letztlich völlig willkürlichen Linie nach dem "koreanischen Szenario" wären dann noch auf Jahre und Jahrzehnte weiter voneinander getrennt. Aber um deren Schicksal geht es den Strategen
des Krieges ohnehin nicht.
Der Moskauer Radiojournalist Alexej Wenediktow ("Echo Moskaus"), einer der klügsten Analytiker des
Geschehens in Russland und auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, hat kürzlich in einem spannenden Vortag in Berlin die Parallelen zwischen Korea- und Ukraine-Krieg aufgezeigt (Videoaufzeichnung, Russisch). Darin erinnert der
Radiomacher auch daran, dass die Friedensverhandlungen in Korea wegen drittrangiger, strittiger Details in Stocken gerieten und noch zu Tausenden weiteren Todesopfern führten.
Und dass nicht einmal der Tod Stalins den Supermächten half, ihren Stellvertreterkrieg in
Ostasien mit einem Friedensschluss zu beenden.
Ein ewig eiternder Territorialkonflikt ohne Friedenslösung, der über Jahrzehnte hinweg weiter vor sich hin köchelt - mit der Gefahr, dass es jederzeit wieder zur großen Explosion kommt - das ist gerade die düstere Perspektive für die Ukraine und für den Kontinent Europa. Und zwar nicht die unwahrscheinlichste.
kp, 5. Januar 2023