"Was kann ehrenvoller und teurer sein, als Deine Fröhlichkeit, Machatschkala?"
Raissa Achmatowa (1928-1992), sowjetische Dichterin und Partei-Funktionärin
Keine andere Stadt in Russland hat ähnliche steile Zuwachsraten bei den Einwohnerzahlen, und definitiv keine andere ist so chaotisch. Machatschkala, Zentrum der autonomen russischen Vielvölker-Teilrepublik Dagestan, ist eine architektonische Zumutung. Die Stadt am Kaspischen Meer wuchert ohne erkennbaren Plan in alle Richtungen, Versuche der Behörden, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, sind bisher offenkundig gescheitert. Echte Sehenswürdigkeiten gibt es hier eigentlich auch nicht. Dennoch lohnt ein kurzer Besuch in dieser wundersamen Stadt am Ostrand des Kaukasus, in der ein Reisender sich nicht mehr wie in Europa vorkommt. Und ganz in der Nähe lockt ein echtes Naturwunder - Sarykum, die höchste Sanddüne Eurasiens.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstand an der Küste des Kaspischen Meeres die Festung Petrowskoje, die schnell zu einer Stadt heranwuchs und vor allem nach dem Bau der Eisenbahnlinie von Rostow am Don nach Baku einen Aufschwung erlebte. Nach der Oktoberrevolution wurde die Stadt zu Ehren eines bolschewistischen Revolutionärs umbenannt, der den Tarnnamen "Machatsch" - eine Koseform von Mohammed - getragen hatte. Die Menschen in Dagestan sprechen einfach nur von der "Stadt", wenn sie Machatschkala meinen. Weil Machatschkala erst im 20. Jahrhundert zu einer bedeutenden Großstadt anwuchs und 1970 bei einem schweren Erdbeben stark zerstört wurde, gibt es heute kein historisches Zentrum - und eigentlich überhaupt keine sehenswerten historischen Gebäude.
In vielen Straßen dominieren noch sowjetische Plattenbauten und Lada-Pkws. Und auch Russisch ist hier überall zu hören. Dennoch ist Machatschkala alles andere als eine russische Stadt:
Russen stellen zwischen all den muslimischen Völkerschaften nur noch eine kleine Minderheit dar, die größten Bevölkerungsgruppen in Machatschkala sind Awaren, Darginer, Kumyken, Lesgier und
Laken.
In den 1990-er Jahren war die Stadt ein recht gefährliches Pflaster. Bandenkriege und Überfälle von Extremisten gehörten hier zum Alltag. Ausländer ohne Personenschutz wurden
wiederholt Opfer von Entführungen. Allerdings ist das inzwischen Vergangenheit. Wir haben Machatschkala (und den Rest von Dagestan) im Frühjahr 2019 nicht als gefährlich empfunden.
Auch der für eine Vielzahl waghalsiger Sonntagsfahrer berüchtigte Straßenverkehr läuft inzwischen etwas geregelter ab, als wir nach all den über Dagestan kursierenden Klischees
befürchtet hatten. Die Islamisierung der Republik fällt in Machatschkala allerorts ins Auge - durch Kleidung der Menschen und die Moscheen, die überall neu gebaut
werden.
Weil es in der Stadt nicht viel zu sehen gibt, außer dem zugegeben interessanten und exotischen Straßenleben, tun Besucher grundsätzlich gut daran, schnell von hier weiterzureisen - in die Berge, dorthin, wo Dagestan wirklich zu Staunen ist. Allerdings führen praktisch alle Wege dorthin über die Hauptstadt, so dass jeder Reisende hier ankommt oder umsteigt. Einen Tag kann mir hier auch mühelos verbringen, verschiedentlich wird ein Besuch im dagestanischen Nationalmuseum empfohlen, wir haben das zeitlich leider nicht geschafft.
Bis zu 15.000 Gläubige können sich in der riesigen neuen Dschuma-Moschee von Machatschkala zum Gebet versammeln. Die vermutlich größte Moschee Russlands wurde in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion nach dem Vorbild der Blauen Moschee in Istanbul errichtet - mit Spenden aus der Türkei und vieler einfacher Bürger der Stadt. 1997 wurde sie eingeweiht. Hier gewinnt man einen Eindruck davon, welche wichtige Rolle der Islam inzwischen für die Menschen in der Kaukasus-Teilrepublik spielt. Auch Nicht-Muslime können den eindrucksvollen Kuppelbau besichtigen, allerdings gibt es für Frauen leider nur einen separaten Eingang, und sie dürfen nicht in den zentralen Gebetsraum. Die Dschuma-Moschee befindet sich südlich des Stadtzentrums am Imam-Schamil-Prospekt. Aus dem Zentrum gelangt man am besten mit dem Sammeltaxi Nr. 12 hierher.
Machatschkala wirkt wie eine Stadt, in der jeder Grundstücksbesitzer auf seinem Grund bauen darf, was er will. Es gibt keine Vorgaben. Die Straßen erinnern oft an ein
Sammelsurium des schlechten Geschmacks. Manche Häuser wurden mit kitschigen Verzierungen bis zum Gehtnichtmehr verschönert, direkt nebenan stehen unverputzte Gebäude, die wohl niemals fertig
werden.
Einer der wenigen Orte mit so etwas wie einer Struktur ist der zentrale Lenin-Platz, um den herum sich zentrale Verwaltungsgebäude aus der Sowjetzeit aneinanderreihen: die
Regierung der Republik Dagestan, das Ministerium für Nationalitäten-Politik und die Stadtverwaltung aneinanderreihen. Damit die Beamten ihre Sünden beichten können, stehen daneben neuerdings
eine kleine orthodoxe Kapelle und eine Moschee. Und damit niemand auf dumme Gedanken kommt, schmückt ein großformatiges Plakat mit Putin-Ausspruch ("Nur zusammen sind wir Russland.") eines
der Dächer. Wenige Schritte vom Platz entfernt erinnert eine endlos lange Gedenktafel vor dem regionalen Innenministerium an die Milizionäre, die in den vergangenen Jahren bei
Anschlägen oder bei Kämpfen gegen islamistische Untergrundkämpfer ums Leben kamen.
Zwischen Machatschkala und allen großen Moskauer Flughäfen verkehren täglich mehrere Flüge. Sie landen und starten auf dem Flughafen Ujtasch rund 30 Kilometer südlich der Stadt. Stilvoll ist auch die Anreise mit der Bahn: Der tägliche Schlafwagenzug aus Moskau via Saratow und Astrachan benötigt allerdings rund 40 Stunden für die Fahrt. Alle zwei Tage verkehrt zusätzlich ein sehr langsamer Zug zwischen St. Petersburg und Machatschkala via Moskau und Rostow am Don. Der Zugverkehr Richtung Süden beschränkt sich auf wenige Vorortzüge nach Derbent (gut 2,5 Stunden) und zwei wöchentliche Schlafwagenzüge nach Baku in Aserbaidschan, die aus Moskau bzw. Kiew kommen. Der Regionalverkehr wird überwiegend mit Marschrutka-Sammeltaxis abgewickelt. Aber auch Taxis eignen sich selbst für weite Fahrten. Selbst für russische Verhältnisse sind die Tarife sehr niedrig.
Ganz in der Nähe der Dschuma-Moschee (Uliza Dachadajewa 136/3) haben wir vorzüglich im Restaurant "Maidat" gegessen, das neben dagestanischer und usbekischer Küche auch so profane Dinge
wie Burger und Sushi im Angebot hat. Die Preise liegen über dem ortsüblichen Niveau, sind aber im Vergleich zu Westeuropa oder Moskau trotzdem sehr moderat. Auf der Speisekarte stehen
Klassiker wie Plow und Lagman aus Usbekistan, aber natürlich auch die dagestanischen Tschudu-Teigfladen, lakische und kumykische Chinkali und Vieles mehr.
Selbstverständlich ist das Essen hier Halal, und fromme muslimische Besucher, die keine der fünf täglichen Gebetszeiten verpassen möchten, finden ein separates Gebetszimmer.
Knapp 20 Kilometer nordwestlich von Machatschkala können Reisende einen der ungewöhnlichsten Orte des Kaukasus bestaunen: Die riesigen Sanddünen Sarykum (oder Sary-Kum). Die kleine Mini-Wüste ist etwa drei Kilometer lang, der Sand türmt sich hier bis zu einer Höhe von rund 260 Metern auf. Inzwischen ist die höchste Sanddüne Eurasiens ein Naturreservat, ihre genaue Form und Höhe ändert sich ständig je nachdem, woher der Wind weht. Besucher dürfen nicht frei durch den Sand stapfen, aber es gibt einen Bohlenweg zu einem Aussichtspunkt. Bei unserem Besuch im Frühjahr 2019 war auch ein modernes Besucherzentrum in Bau. In dem Naturreservat leben viele Tiere, die sonst nur Mittelasien oder auf der Arabischen Halbinsel vorkommen, wie der Korsakfuchs, die Wüstenspringmaus, der Langohrigel oder die Krötenkopfagame.
Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr zur Düne, so dass ein Taxi die einzige sinnvolle Möglichkeit zu sein scheint, dorthin zu gelangen. Autofahrer folgen der E50 Richtung Chassawjurt, müssen hinter der Siedlung Korkmassala auf eine Schotterpiste abbiegen.