Visumpflicht für Russen - Besuche in der Vorhölle

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Warteschlange vor der deutschen Visastelle in Moskau ca. 2001

Dieser Text ist schon etwas älter, aber die Lektüre lohnt für alle Westeuropäer, die sich vor einer Russland-Reise über die umständlichen Visumbestimmungen aufregen. Denn umgekehrt ist es komplizierter. Und vor einigen Jahren war es sogar noch unvergleichlich komplizierter:

 

Moskau (September 2002). Die deutsche Visastelle in Moskau galt immer als eine abschreckendsten ausländischen Vertretungen. Und das nicht nur, weil sie in dem mit Asbest belasteten ehemaligen DDR-Konsulat am Leninski Prospekt untergebracht war.


Im Sommer übernachteten die Russen auf der Straße vor dem hohen Metallzaun. Manche waren tausende Kilometer gereist, um ihren Antrag zu stellen. Manche kamen heulend vom Gelände, weil sie von den Sachbearbeitern wegen eines fehlenden Papiers wieder nach Hause geschickt wurden. Stundenlang mussten die Menschen bei Regen oder Frost vor dem Tor zur Visastelle ausharren, in der Hoffnung, es vielleicht vor dem Ende des Arbeitstags auf das Gelände zu schaffen. Nicht immer gelang das beim ersten Anlauf. Eine Art Mafia verkaufte Warteplätze in der Nähe des Eingangs.

 

Anderthalb Monate Wartezeit

Später wurde das größte Chaos beseitigt, als man sich vorab telefonisch einen Termin zur Vorsprache bei den Deutschen besorgen musste, über eine kostenpflichtige Rufnummer wohlgemerkt. Für 2,50 Euro pro Minute. Die Schlangen waren seither kürzer, doch im Gegenzug stiegen die Bearbeitungszeiten für ein Visum auf mehrere Wochen. Im Sommer mussten sich Russen regelmäßig schon anderthalb Monate vor dem Reisetermin um ihr Visum bemühen. Reisefreiheit sieht eigentlich anders aus.

Jahrzehnte lang hatten die Regierungen der freien Länder des Westens die Ostblockstaaten dafür kritisiert, dass die Menschen von dort nicht frei ins Ausland reisen durften. Was für eine Heuchelei! Denn kaum führte das neue demokratische Russland die Reisefreiheit ein, hatten die Europäer nichts anderes zu tun, als die Einreisevorschriften für Russen drastisch zu verschärfen. Alle EU-Beitrittskandidaten mussten auf Vorgabe aus Brüssel die Visumpflicht für Russen einführen. 

Gegen Ende der Neunziger Jahre gab es kaum noch Staaten in Europa, die ein deutsch-russisches Paar ohne komplizierte bürokratische Verfahren hätte besuchen können. 

Die erste große Hürde für alle Antragsteller war auch ein Eingangshäuschen, wo Ausweise geprüft und die Taschen auf Waffen durchsucht wurden. Gelegentlich dachte sich das Konsulat dabei neue Schikanen aus: Irgendwann war es plötzlich verboten, Mobiltelefone mit in die Visastelle zu nehmen. Am Eingang durfte man sie auch nicht abgeben. "Fragen Sie einen von den Versicherungsagenten auf der Straße", blafften die Türsteher, wenn man es wagte, sie zu fragen, ob man denn sein Telefon nun wegschmeißen sollte. Die Verkäufer von Krankenversicherungen, die vor dem Konsulat herumlungerten, freuten sich. Sie hatten ab sofort einen einträglichen Zusatzverdienst.

 

Schon lange, bevor die Visavergabe nach dem so genanntem "Visaskandal" (Für die Jüngeren hier die Wikipedia-Erklärung) noch einmal verschärft wurde, mussten alle Antragsteller zu einem "Interview" antreten, einer Befragung, die alle Reisenden persönlich durchmachen mussten, wenn sie nicht ihr Visum für viel Geld über dubiose Vermittlerfirmen kauften. Die gab es zu jeder Zeit, nach dem "Visaskandal" stiegen lediglich die Preise etwas an. Für alle, die nicht mehrere hundert Euro zahlen konnten, ging kein Weg an der persönlichen Befragung vorbei. Schließlich musste die Visastelle alle Antragsteller aussieben, die womöglich Asyl in Deutschland beantragen würden, Autos stehlen oder der Prostitution nachgehen wollten. Alleinstehende Frauen ohne richtig gut bezahlte Festanstellung hatten dabei von vorneherein schon einmal geringe Chancen auf ein Visum, ebenso Kaukasier. 

 

 

Busse Moskau Deutschland Leninski Prospekt
Wer Glück hatte und ein Visum bekam, konnte direkt vom deutschen Konsulat abreisen

Wohin fährst Du, Anna?

 

Manche der deutschen Konsulatsmitarbeiter und ihre russischen Hilfskräfte duzten die Antragsteller, pöbelten gerne herum und benahmen sich in jeder Hinsicht so, dass man sich als Deutscher für sein Land hätte schämen müssen. Wenn man denn dabei gewesen wäre und es nicht die strenge Vorschrift gegeben hätte, derzufolge Deutsche keinen Zutritt zur Visastelle hatten. Nicht einmal als Ehemann durfte ich mit zu dem so genannten Interview meiner eigenen Frau. 

 "Sie haben keinen Termin", raunzte der Türsteher und jagte mich zurück auf die Straße. Diese Türsteher hatten wirklich einen harten Job, denn ihre Verbote waren nicht immer umzusetzen: Immerhin konnte das Gelände auch durch andere Tore betreten werden. Schnell in eine andere Schlange gestellt, bei der Taschenkontrolle irgendeinen Grund ausgedacht, warum ich ins Konsulat musste ("Will eine Einladung für meine Freundin ausstellen."), nach der Kontrolle in Richtung Visastelle abgebogen und schon konnte der Anschauungsunterricht beginnen, wie eine deutsche Behörde besser nicht arbeiten sollte:

 

Die Mitarbeiter hinter ihren Glasscheiben legten im Gespräch mit den Antragstellern interessante Eigenheiten an den Tag: "Wohin fährst Du, Anna?", lautete noch eine der freundlicheren Fragen, die (erwachsene) Besucherinnen zu hören bekamen. Sobald ein Russe es wagte, den Sachbearbeitern zu widersprechen, zogen die in der Regel die Jalousien hinter dem Fenster zu, standen auf und ließen den Antragsteller hilflos auf der anderen Seite der Glaswand sitzen. Gerne fauchten junge Frauen durch die sichere Glasscheibe Großmütterchen aus der Provinz an: Noch nie habe sich beim Ausfüllen der Anträge jemand so dumm angestellt. Die Rentnerinnen blickten dann erniedrigt zum Boden.

Sogar nach unserer Heirat in Moskau wurde uns das erste Visum für die Sommerferien in Deutschland zunächst verweigert: Mit der sehr sinnvollen Begründung, wir müssten eine "Familienzusammenführung" beantragen und kein Touristenvisum. Die Idee, dass eine Familie womöglich auch in Moskau leben konnte und eventuell gar nicht den Wunsch hatte, im Westen "zusammengeführt" zu werden, kam den Konsulatsmitarbeitern erst beim zweiten Besuch in den Kopf.

 

Slowakische Visastelle auf Europa-Kurs

 

Im Laufe der Jahre steigerte sich meine Abneigung gegenüber der deutschen Visastelle in Moskau. Aber auch andere Konsulate überboten sich zunehmend gegenseitig in willkürlichen Forderungen, widersprüchlichen Regelungen und einem möglichst überheblichem Auftreten gegenüber den russischen Antragstellern. Wie gut, dachte ich, dass es da noch die Slowakei gab. Genau der richtige Ort für einen kleinen Urlaub. Zwar ließen auch die Slowaken russische Touristen nur noch mit Visum ins Land. Doch immerhin stellten sie es unbürokratisch und vor allem ohne ein offizielle Einladung aus dem Land aus. Alles eine Sache weniger Minuten, dachte ich.

 

Als ich mit Annas russischem Pass und dem ausgefüllten Antrag vor der slowakischen Botschaft ankam, war die gute Laune sofort dahin. Auch hier drängte sich eine lange Schlange von Wartenden auf der Straße, die sich nur langsam vorwärts bewegte. In der kaum beleuchteten, düsteren Visastelle selbst drängten sich die Menschen vor mehreren Schaltern, an denen Konsulatsmitarbeiter hinter einer dicken Glasscheibe saßen und nur über ein Mikrophon mit den Besuchern sprachen. Alles, wie bei den Deutschen.

 

Die Sachbearbeiterin blätterte gelangweilt unsere Dokumente durch. "Wo werden Sie wohnen?" fragte sie.

"Das weiß ich noch nicht. Da, wo es uns gefällt, mieten wir uns ein Hotelzimmer"

Diese Antwort gefiel ihr überhaupt nicht. Sie verzog das Gesicht: "Sie müssen ihre genaue Adresse in der Slowakei angeben. Sonst kann ich den Antrag nicht annehmen."

"Aber davon steht nichts in Ihren Regeln."

"Na und. So lautet die Vorschrift. Buchen Sie ein Hotel und kommen Sie wieder."

"Warum denken Sie sich hier Vorschriften aus, die nirgendwo offiziell aufgeschrieben sind?"

"Anordnung des Botschafters. Wir nehmen keine Anträge an, wenn keine genaue Adresse bekannt ist."

 

Hinter der Glasscheibe schien ein erhebliches Problem für unseren geplanten Urlaub zu entstehen. Meine zunehmend wütend vorgetragenen Argumente machten keinen Eindruck. "Hören Sie zu Fräulein, ich weiß was", rief ich schließlich durch die Sprechanlage so laut, dass es alle in dem Warteraum hören konnten. "Wir fahren nach Österreich, da gibt es ohnehin schönere Berge als bei Ihnen. Leben Sie wohl." Ich drehte mich um und ging.

 

Ein Russe, der am Ausgang stand und ein Dutzend Pässe in der Hand hielt, gab mir ein Handzeichen. "He Sie, warten Sie doch", raunte er. Ich stoppte. Der Mann nahm mich kurz zur Seite und stellte sich als Kurier eines Reisebüros vor, dass Visa beschaffte. "Wir machen es immer so: Bei allen unseren Kunden geben wir einfach immer an, dass sie im Hotel Bratislava in Bratislava absteigen. Da gibt es nie Probleme", verriet er. 

 

Ich bedankte mich, überlegte, ob die Konsulats-Tante nach dem Streit überhaupt noch einmal mit mir reden würde, ergänzte schließlich den Visumantrag und ging zum Schalter zurück. Die Wartenden, die die hitzige Diskussion mit der Sachbearbeiterin verfolgt hatten, ließen mich sofort an der Warteschlange vorbei.

"Hallo, Fräulein", sagte ich und grinste. "Wir haben uns jetzt entschieden, wo wir unsere Ferien verbringen wollen. Hier, sehen Sie: Hotel Bratislava in Bratislava."

 

Die Frau sah mich einen Moment lang überrascht an. "Aber das stimmt doch gar nicht", meinte sie dann mit zusammengekniffenen Augen.

"Natürlich stimmt es nicht", entgegnete ich so liebenswürdig, wie es nur ging. "Hier steht jetzt ein Hotel, damit alles seine Ordnung hat."

Etwas unsicher nahm sie meine Dokumente, brummte, so etwas habe sie noch nicht erlebt. Sie könne nicht garantieren, ob unter diesen Umständen ein Visum ausgestellt werde, sagte sie. Und dann - in drei Tagen solle ich wiederkommen, um den fertigen Pass abzuholen.

 

Die europäischen Konsulate in Moskau waren allesamt keine Orte, die ein normaler Mensch freiwillig besucht hätte. Und doch gab es zumindest eine Ausnahme, eine Visastelle mit freundlichen Mitarbeitern, die Anträge schnell und unkompliziert bearbeiteten: Einige Male hatte ich mich auf dem Weg dorthin verspätet und erreichte das Konsulat erst, als es eigentlich schon geschlossen war. "Bitte", sagte ich dann dem Wachmann, "ich habe mir extra einen halben Tag Urlaub genommen, um das Visum zu beantragen." Der Uniformierte meinte väterlich, ich solle mich das nächste Mal bitte etwas beeilen, ließ mich dann aber passieren und zum Schalter vorgehen.

Paradiesische Zustände angesichts der ansonsten üblichen Praktiken. Das Land mit der einzigen freundlichen Visastelle Moskaus hieß Belarus. Weißrussland. Europas "letzte Diktatur".

Nachtrag 2017: Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren viele Dinge besser geworden. Viele EU-Länder stellen russischen Reisenden inzwischen relativ problemlos Visa aus, oft für mehrere Besuche und mit langer Gültigkeitsdauer. Die deutschen Auslandsvertretungen haben aber noch immer einen ziemlich restriktiven Ruf. Und die von russischer Seite seit 20 Jahren angestrebte Abschaffung der Visumpflicht denkt derzeit angesichts der politischen Großwetterlage in der Europäischen Union ohnehin niemand mehr.

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