"Wenn Russland einst das Gas ausgeht, kann Gazprom das ganze Land noch ein Jahr lang warm halten, indem es sein Geld verbrennt."

 

Autor unbekannt

 

Nord-Stream - Der Traum von der günstigen Energie

Presse-Badge vom Nord-Stream-Baubeginn
Souvenir von der Pressereise zum Nord-Stream-Baubeginn

Kein anderes europäisches Wirtschafts-Großprojekt der vergangenen Jahrzehnte war wohl auch nur annähernd so umstritten wie der Bau der Pipelines Nord-Stream 1 und 2. Die Geschichte des Milliardenvorhabens ist ein jahrelanger Politik-Thriller, der im September 2022 mutmaßlich mit einem Terroranschlag in 70 Meter Tiefe auf dem Grund der Ostsee sein Ende fand. Die Röhren sollten Deutschland und andere Abnehmer-Staaten in Westeuropa auf direktem Weg zuverlässig und vergleichsweise günstig mit russischem Erdgas versorgen - ohne Transit durch andere ehemalige Sowjetrepubliken. Dass mehrere Bundesregierungen lange an der Idee festhielten, Deutschlands Energieversorgung mit Hilfe der Russen zu sichern, gilt heute als kapitaler Fehler der Kanzler Schröder und Merkel. Aber es war keiner.

Rückblende: Im Dezember 2005, als ein großer Krieg in Europa undenkbar schien, herrschte Partystimmung in einer eigens aufgebauten Zeltstadt mitten in der nordrussischen Taiga. Die erste Schweißnaht der neuen Nordeuropäischen Gaspipeline wurde gefeiert. Sie sollte von der bestehenden Jamal-Leitung abzweigen, an die russische Ostseeküste führen und dann auf dem Meeresgrund bis nach Mecklenburg-Vorpommern verlängert werden. Russlands Premier Fradkow, der deutsche Wirtschaftsminister Glos und die Bosse der deutschen Energiewirtschaft setzten für Kameras und Fotografen stolz ihre Autogramme auf die ersten Rohre. Eine große Journalistenschar war von Gazprom mit Sondermaschinen zum nächstgelegenen Flughafen eingeflogen und dann stundenlang in einer Buskolonne durch die weißen Winterlandschaften gefahren worden. Als Gazprom-Chef Alexej Miller bei der Pressekonferenz mitten im Wald wie nebenbei mitteilte, wer Aufsichtsratschef der Pipeline-Betreibergesellschaft werden würde, schauten wir Presseleute kurz verwirrt zu unseren Sitznachbarn nach links und rechts. Hatten wir richtig gehört? Hatte er wirklich "Gerhard Schröder" gesagt?

Die Personalie wenige Wochen nach Schröders Auszug aus dem Bundeskanzleramt hatte ein Geschmäckle. Dennoch: Es war der Traum von einer zumindest wirtschaftlich engen Partnerschaft, den Unternehmen und Politiker in beiden Staaten damals noch träumten. Nord-Stream sollte dauerhaft für warme Stuben im Westen sorgen und die energiehungrige deutsche Industrie satt machen - auf direktem Weg von den westsibirischen Gasfeldern, bei niedrigeren Transportkosten und einer angesichts der kürzeren Route besseren Umweltbilanz.  

So böse wie der Hitler-Stalin-Pakt

Massiver Widerstand gegen das Projekt kam hingegen von Beginn an aus den Ländern, über die bislang der komplette Gasexport abgewickelt wurde und wo einige am Transit beteiligte Unternehmen und deren Eigentümer gut daran verdienten. Polens damaliger Verteidigungsminister Radosław Sikorski verglich das Pipeline-Vorhaben bereits 2006 allen Ernstes mit dem Hitler-Stalin-Pakt (Quelle: Manager-Magazin) - derselbe Sikorski, der dann im September 2022 auf Twitter den USA für die Zerstörung der Pipeline dankte (Bericht: Berliner Zeitung). Mit den Vereinigten Staaten hatte sich schnell ein besonders mächtiger Gegner der Leitung in Position gebracht. Schon 2008 forderte der US-Botschafter im damals noch neutralen Schweden die Regierung in Stockholm öffentlich auf, die Verlegung der Röhren durch schwedische Gewässer zu stoppen (Bericht Tagesspiegel). 


In jene Zeit, als der Bau von Nord-Stream begann, fielen die sogenannten Gaskriege zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn, in denen mit harten Bandagen um Lieferverträge und - mengen gefeilscht wurde. Damals entstand auch das bis heute gepflegte Narrativ, Russland setze Energie als Waffe ein. Die Erzählung war niemals ganz falsch, aber sie war eben auch nie richtig. Denn tatsächlich nutzten im Milliardenpoker der einstigen Bruderländer auch die Transitstaaten die Pipelines über ihr Gebiet als "Waffe", um Russland und den Westen unter Druck zu setzen.

 

Grob zusammengefasst stellte sich die Lage in Europa damals nämlich so dar: In den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte Moskau an einige ehemalige Unionsrepubliken zunächst weiter Gas zu erheblich reduzierten Preisen geliefert - in der Hoffnung auf eine gewisse politische Dividende. Im Fall von Weißrussland funktionierte dieses Vorgehen, bei der Ukraine war es nach der "Orangenen Revolution" in Kiew von 2004 gescheitert. Die neue ukrainische Führung unter Präsident Juschtschenko benötigte billige Energie zwar zum Überleben, verkündete aber trotzdem einen außenpolitischen Schwenk Richtung Nato - worauf Gazprom die Alimentierung des Landes beenden wollte (Bericht aus dem taz-Archiv). Länder, die Russland unfreundlich gesonnen waren, sollten im Vergleich zur Kundschaft im restlichen Europa keine Sonderkonditionen mehr genießen. Kiew drohte den Russen, sich ohne gültige Liefer- und Transitverträge einfach von dem für den Westen bestimmten Gas zu bedienen. Schon damals hing mehrfach die Gefahr in der Luft, die Gaslieferungen könnten ganz gestoppt werden. Aufgrund der Probleme mit den Transitstaaten, die letztlich die Versorgungssicherheit Westeuropas bedrohten, war die Ostsee-Pipeline aus deutscher Sicht also eine gute Investition in die Zukunft. Dies galt umso mehr, als die Bundesrepublik sich aus guten Gründen  auf den mühevollen Weg zum Ausstieg aus der Atomkrafrt durchgerungen hatte und auch Kohle kaum noch als Energieträger der Zukunft gelten konnte.

  

Wirtschaftskrieg gegen Verbündete

Der Kampf gegen Nord-Stream wurde von Beginn an von einem riesigen Heer von Lobbyisten und Propagandisten mit hehren Zielen verklärt, und auch viele vernünftige Leute übernahmen deren Argumente: Europas energiepolitische Unabhängigkeit müsse gewahrt bleiben, die Ostsee-Pipeline sei umweltschädlich und die Ukraine müsse unbedingt weiter ihre Transitmilliarden verdienen. Viele derjenigen, die immer gegen die Röhren waren, fühlen sich jetzt bestätigt. Das Rechercheportal Correctiv prangert in einer ausschweifenden Recherche, die allerdings kaum Neues zutage brachte, alle an, die sich jemals für die Gasgeschäfte ausgesprochen haben. Bundesjustizminister Buschmann verstieg sich im Interview mit der "Welt" gar zu der Behauptung, durch das Festhalten an Nord-Stream 2 trage Deutschland eine Mitschuld am Ausbruch des Ukraine-Krieges.

 

Es stimmt: Die wirtschaftliche Verzahnung zwischen EU-Europa und Russland wurde zwar sehr eng, hat den Kontinent aber dennoch nicht vor der aktuellen Katastrophe bewahren können. Was die Nord-Stream-Gegner allerdings in all den Jahren gerne ausblendeten: Insbesondere den Vereinigten Staaten ging es nie um irgend etwas Edles, sondern darum, die Früchte des amerikanischen Fracking-Booms umzumünzen - was in dem gegen die Pipeline gerichteten Sanktionsgesetz von 2017 sogar offen eingeräumt wird (Gesetzestext, englisch). Unter normalen Umständen wäre das teure amerikanische Flüssiggas in Europa gegenüber russischem Pipelinegas kaum wettbewerbsfähig. Und eine Inbetriebnahme von Nord-Stream 2 hätte nicht nur in Deutschland, sondern vermutlich sogar weltweit zu niedrigeren Gaspreisen für alle geführt (Siehe z. B. hier: "Auswirkungen von Nord-Stream 2 auf die Gaspreise in Europa") und damit ebenfalls amerikanischen Interessen geschadet.

 

Immer wieder verzögerten US-Sanktionen daher die Bauarbeiten des wichtigsten russisch-europäischen Investitionsprojekts mit dem Ziel, Russlands Energieexporte zu stören oder auszubremsen. Auch die EU erhöhte den Druck, änderte beispielsweise rückwirkend ihre Gasrichtlinie, um den Betrieb der Ostsee-Pipeline mit einer "Lex Nord-Stream" zu erschweren (s. z.B. Analyse von Götz Roland). Als die neue Ampel-Regierung Ende 2021 den Zertifizierungsprozess für Nord-Stream 2 auf Eis legte, deutete sich an, dass das ganze Projekt in einer Sackgasse steckte.

Dass Nord-Stream 1 in Betrieb ging und Nord-Stream 2 trotz der amerikanischen Sanktionen immerhin noch bis ans deutsche Ufer fertig verlegt werden konnte, ist im Rückblick eine beachtliche Leistung. Wenn sich Deutschlands Wirtschaft schon vor Jahren von überteuertem Flüssiggas abhängig gemacht hätte, wie es die Scholz-Regierung gerade notgedrungen tut, würde das Land heute gewiss nicht besser dastehen. Und vermutlich liegt Justizminister Buschmann nicht einfach nur falsch mit seiner Kriegsschuld-These: Viel wahrscheinlicher ist, dass Putin und die Falken in seiner Umgebung den faktisch seit Jahren gegen die Röhren geführten Wirtschaftskrieg als Beleg dafür werteten, dass es mit dem Westen ohnehin keine Partnerschaft mehr geben könne - was ihnen die Entscheidung für den Beginn ihres mörderischen Angriffskriegs erleichtert haben dürfte.

 

Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar hat den Traum von der günstigen, zuverlässigen Energie aus Russland platzen lassen. Schnell war klar, dass Nord-Stream 2 nicht in Betrieb gehen würde. Seit dem Sommer floss als Folge des Wirtschaftskriegs zwischen Russland und der EU erst immer weniger und dann gar kein Gas mehr durch Nord-Stream 1. Und die mutmaßlichen Sprengstoffanschläge auf die Pipelines vom September, die beide Nord-Stream-1-Röhren und einen der beiden Nord-Stream-2-Stränge unbrauchbar machten. führen nun dazu, dass eine Rückkehr zur alten russisch-westeuropäischen Energie-Partnerschaft wohl unmöglich bleibt. Selbst nach einem Ende des Ukraine-Krieges oder gar nach einem Zusammenbruch der Putin-Herrschaft. Wenn Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (Bericht tagesschau.de) trotzdem öffentlich darüber nachdenken, nach Kriegsende wieder Gas aus Russland zu beziehen, dürfte das ein frommer Wunsch bleiben.

Ohnehin hält die EU an ihrem Ziel fest, bis 2027 komplett auf den Import russischer Energieträger zu verzichten, und Annalena Baerbock hatte ja schon im Mai die Marschrichtung vorgegeben, als sie nassforsch erklärte, dieser Verzicht auf Öl und Gas aus Russland gelte "für immer" (Bericht z.B. bei RND). Momentan deutet allerdings auch nicht viel darauf hin, dass der Lieferant an einer Wiederaufnahme der alten Beziehungen interessiert ist. Russland wird seine Energieströme auch künftig so schnell es eben geht in Richtung Asien umorientieren - durch den Ausbau von Lieferkapazitäten vor allem nach China und möglicherweise durch den - wenn auch mit vielen Fragezeichen versehenen Aufbau eines Gas-Verteilerzentrums in der Türkei (Details dazu z.B. bei RBK, russisch).

 

Wer hat die Leitungen gesprengt?

Als die Meldungen von den Detonationen am Grund der Ostsee die Runde machten, hatte man dann auch den Eindruck, sie würden in Deutschland niemanden wirklich interessieren. In der noch immer wichtigsten Nachrichtensendung der Nation, der 20.00-Tagesschau, wurde das Thema am 27. September noch hinter dem Streit um die AKW-Laufzeitverlängerungen abgehandelt. Dabei ist die Frage, was genau geschehen ist und wer für den Anschlag auf Nord-Stream die Verantwortung trägt, weiß Gott nicht trivial. Faktisch handelt es sich um einen kriegerischen Akt, der sich nicht nur gegen Gazprom, sondern direkt gegen die Bundesrepublik richtet. Und im schlimmsten Fall steckt nicht Deutschlands derzeit ärgster Feind dahinter. 

Die Bundesregierung glaubt an eine gezielte Sabotage unter Beteiligung staatlicher Akteure, will auf eine Parlamentarische Anfrage aus der Linken-Fraktion aber nicht mehr dazu sagen. Es gebe keine gesicherten Erkenntnisse zur Urheberschaft, und falls doch, dürften etwaige Geheimdienstinformationen aus Gründen des Staatswohls nicht öffentlich gemacht werden. Eine gemeinsame Untersuchung des Anschlags unter Beteiligung aller betroffenen Länder wird es vorerst nicht geben. In westlichen Leitmedien darf man überwiegend lesen, dass es die Russen waren, weil alles andere absurd wäre, basta. Die russische Presse hat sich festgelegt, dass es die Amerikaner gewesen sein müssen. Vieles von dem, was bislang zur Urheberschaft des Anschlags veröffentlicht wurde, könnte man gut in die Kategorie Verschwörungstheorie einordnen.

 

In einem unterscheiden sich die Anschläge auf die Ostsee-Pipelines allerdings ganz grundsätzlich von Geschichten über Echsenmenschen oder finstere Geheimlogen. Die Zerstörung von Nord-Stream ist keine Verschwörungstheorie, sondern Ergebnis einer ganz handfesten Verschwörung von wahrlich historischem Ausmaß. 

 

(kp, 23.10.2022)


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