Ahnungslos in den Wirtschaftskrieg

Die "militärische Spezialoperation" in der Ukraine endete für Russland nicht mit der erhofften, blitzartigen "Rückabwicklung" des Maidan-Umsturzes von 2014, sondern mit einem militärischen und politischen Fiasko. Doch auch für den Westen wird der Wirtschaftskrieg, der eigentlich Moskau in die Knie zwingen sollte, immer mehr zum Bumerang. Das könnte auch daran liegen, dass Nato und EU zwar seit mindestens 15 Jahren auf Konfrontationskurs zu Russland eingeschwenkt sind, sich aber offenbar nie ernsthafte Gedanken darüber machten, was geschehen würde, wenn die Lage einmal tatsächlich eskaliert. Die Idee, mit beispiellosen Sanktionen gegen das größte Land der Erde vorzugehen, als wäre es ein zweites Nordkorea, wirkte von Anfang an recht ambitioniert.

"Neue Duschköpfe gegen Putin" - so titelte meine Regionalzeitung Mitte Juni. Wasserspar-Duschköpfe sind vielleicht das beste Symbol für die Rat- und Hilfslosigkeit in den westlichen Hauptstädten angesichts von Rekord-Inflation, einem drohenden Ausfall der Gaslieferungen, dramatisch wachsender Armut und dem damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Sprengstoff. 

Bereits im Mai klagte die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei einer internationalen Konferenz über eine wachsende "Kriegsmüdigkeit" in Europa (Quelle u.a. RND). Dabei hatte die Berliner Chefdiplomatin unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine noch so optimistisch geklungen. Da lautete ihre Prognose zu den historisch beispiellosen Strafmaßnahmen des Westens: "Das wird Russland ruinieren." Dass der Wirtschaftskrieg den Westen jetzt selbst so sehr trifft, hat mehrere Gründe. Russlands Volkswirtschaft, kaufkraftbereinigt die sechstgrößte der Welt (Quelle: Statistisches Bundesamt/IWF), war längst eng verflochten mit den Strömen der Weltwirtschaft. 

Letztlich läuft es aber immer darauf hinaus, dass die Verantwortlichen bei der Planung der Sanktionen enorm stümperhaft vorgingen und dass sie daher viele Probleme und Risiken ignorierten, die unschwer hätten vorausgesagt werden können. Erst unlängst kam heraus, dass die Bundesregierung möglicherweise noch nicht einmal genau weiß, wie groß die deutsche Abhängigkeit vom Gegner tatsächlich ist. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte im Frühjahr erklärt, Deutschland sei gut gerüstet für ein Öl-Embargo, weil  der Anteil Russlands an den Importen angeblich bei bloß noch zwölf Prozent liege. Tatsächlich war der Wert jedoch im Mai mit knapp 28 Prozent mehr als doppelt so hoch (Bericht T-online).

Im Wirtschaftskrieg entscheiden beide Seiten, wie sehr alles eskaliert

Für die Feststellung, dass ein knappes Angebot an dringend benötigten Waren oder auch nur die Furcht vor einem Defizit die Preise steigen lässt, hätte beispielsweise die Lektüre eines Erstsemester-Lehrbuchs der Volkswirtschaftslehre ausgereicht. Den Spitzen der EU war das egal, als sie über ein "Öl-Embargo Light" verhandelten. Dabei war klar, dass die Strafmaßnahmen den Ölpreis weiter in die Höhe treiben und damit letztlich Russland nützen würden. "Sie machen die EU zu einem Risiko für die Welt"notierte dazu der stets lesenswerte Blog "Lost in Europe" des deutschen EU-Korrespondenten Eric Bonse. "Diese Sanktionen sind toxisch und laufen den strategischen Interessen Deutschlands und der EU zuwider." Moskaus Kriegskasse hingegen ist aufgrund der Rekord-Preise für Energierohstoffe bestens gefüllt - trotz allem.

Aber Engpässe und drastische Preissteigerungen wären noch das geringere übel. Denn e
in weiterer strategischer Fehler des Westens im Wirtschaftskrieg gegen Russland war die eher naive Annahme, dass die Russen sich gegen die mittlerweile sechs Sanktionspakete nicht irgendwann heftig wehren würden. Dass sie es doch tun, haben viele Politiker auch in Deutschland mit wütenden Statements kommentiert,

dabei hätte man es wohl erwarten können. Als etwa die üppigen Devisenreserven der russischen Zentralbank blockiert wurden, antwortete Moskau mit dem (angesichts der Umstände nicht ganz unlogischen) Ultimatum, alle "unfreundlich gesonnenen Staaten" müssten ihre Gaslieferungen dann eben in Rubel begleichen. Die eher psychologisch bedeutende Maßnahme trug mit zur Stabilisierung der kurzzeitig abgestürzten russischen Währung bei.

 

Und während später in den westlichen Hauptstädten über Öl- oder Gasembargos diskutiert wurde, reduzierte Russland seinerseits die Gas-Lieferungen über Nord Stream 1 - ein Vorgeschmack, was da noch kommen könnte. Ob der offiziell von Gazprom genannte Grund vorgeschoben ist, Kanada habe Siemens-Turbinen nach einer Wartung wegen der dortigen Sanktionen nicht mehr nach Europa zurückgeben wollen, darf dabei dahingestellt bleiben. Allen Verantwortlichen hätte klar sein können: Wie sehr die Lage eskaliert, entscheidet in der Sanktionsspirale eben nicht nur eine Seite. "Russland ist auf die Abschaltung vom SWIFT-System besser vorbereitet als Europa auf die Abschaltung vom russischen Erdgas", warnte Alexander Baunow vom mittlerweile auf Geheiß der russischen Behörden geschlossenen Moskauer Carnegie-Zentrum im Januar in einer noch immer lesenswerten Analyse der Vorkriegs-Situation (Russisch).

Was ein, von Teilen der westlichen politischen Elite und dem EU-Parlament selbst gefordertes Gas-Embargo für Europa bedeuten könnte, listete das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil" bereits im Frühjahr auf: 
"Ohne Gas würden Schmelz- und Gießanlagen nicht nur stillgelegt, sondern beschädigt oder zerstört werden. Papier wäre plötzlich Mangelware. Es gäbe unter Umständen keine Zeitungen mehr und keine Kartons für die Amazon-Pakete. Die Petrochemie könnte keine Grundstoffe für Medikamente mehr liefern. Auch die Nahrungsmittelindustrie ist ein Großverbraucher von Erdgas."

Und es ist keineswegs so, dass Deutschland und andere EU-Staaten lediglich beim Erdgas abhängig von Russland sind. Auch bei wichtigen Rohstoffen wie Aluminium oder Titan könnte es zu Engpässen kommen, selbst bei einigen Lebensmitteln: So schlug die Tagesschau im Juni Alarm, die Zukunft der Fischstäbchen sei in Gefahr.

 

Die Welt steht nicht mehr hinter dem Westen

Der möglicherweise folgenschwerste Irrtum der deutschen und anderer westlicher Regierungen lag aber bislang darin zu glauben, die "Weltgemeinschaft" stehe geschlossen an der Seite des Westens und der Ukraine. Mittlerweile wissen wir, dass das nicht stimmt. Zwar verurteilte eine überwältigende Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten den völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf das Nachbarland, doch den Strafmaßnahmen von EU und Nato schloss sich nur eine Handvoll weiterer Länder an. Selbst wichtige US-Verbündete wie der "Nato-Partner" Türkei, Israel oder die Despoten aus den arabischen Öl-Monarchien lehnen Sanktionen ab. Im einst als Hinterhof der USA verschrienen Lateinamerika trägt offiziell kein einziger Staat die westliche Sanktionspolitik mit (eine Analyse dazu gibt es bei Telepolis), von wirtschaftlichen Schwergewichten wie China oder Indien ganz zu schweigen. Das bedeutet nicht, dass die Wirtschaftsbeziehungen von den westlichen Sanktionen unbeeinflusst weiterlaufen werden, aber zumindest werden überall Wege gesucht, sie zu umgehen.

 

Die Uneinigkeit der Staatengemeinschaft im Bezug auf den Ukraine-Krieg und die Unfähigkeit des Westens, den Rest der Welt mit ins Boot zu nehmen, eröffnet den Russen grundsätzlich die Chance, alternative Absatzmärkte zu finden. So exportierte Russland im April 2022 erstmals mehr Öl nach Asien als an seine Kunden in Europa (Wedomosti-Bericht vom 27. Mai, Russisch). Indien kauft inzwischen (mit ordentlichem Rabatt) so viel russisches Öl, dass das Land bald selbst zu einem wichtigen Lieferanten für Erdölprodukte werden könnte. Die Europäer könnten dann beispielsweise auch nach einem Öl-Boykott weiter russisches Öl beziehen können, nur eben aus Indien. Und die grüne deutsche Chefdiplomatin Baerbock könnte mit ihrer Ankündigung sogar Recht behalten, Deutschland werde die Importe von Energierohstoffen aus Russland auf Null reduzieren - und zwar "für immer". Ähnlich lief es nach 2014 bereits in der Ukraine, als die Kiewer Führung einen Import-Stopp für russisches Gas verkündete und es stattdessen im Reverse-Flow-Verfahren von den westlichen Nachbarn kaufte. 

Auch andere westliche Strafmaßnahmen können mittlerweile umgangen werden. So boomte in den ersten Kriegsmonaten nach der Abschaltung der Visa- und Mastercard-Kreditkarten russischer Kunden der "Banken-Tourismus" in benachbarte Länder (Bericht Forbes.ru, Russisch). Mittlerweile, habe ich mir während meines Moskau-Besuchs im Juni sagen lassen, lässt sich die Eröffnung eines Bankkontos in Usbekistan und die Ausstellung einer neuen Kreditkarte relativ einfach von Russland aus abwickeln, ohne vor Ort zu erscheinen.


Die westlichen Versuche, Russland allein für die drohende katastrophale Hungersnot in Afrika verantwortlich zu machen, standen bislang ebenfalls unter keinem guten Stern. Entsprechend ernüchternd verlief die Suche nach neuen Verbündeten während der Afrika-Visite von Olaf Scholz Ende Mai. Die afrikanischen Gastgeber forderten stattdessen Verhandlungen zur schnellen Beendigung des Krieges, (was der Westen bislang bekanntlich ablehnt, weil er auf eine militärische Wende zugunsten von Kiew hofft). Macky Sall, Senegals Präsident und aktueller Vorsitzender der Afrikanischen Union, spricht sich hingegen fortlaufend für die Lockerung der westlichen Sanktionen gegen Russland aus (beispielsweise im Interview mit Le Monde). Denn die Afrikaner wissen: Nicht nur die Minen vor dem Hafen von Odessa und kriegsbedingte Ernte-Ausfälle in der Ukraine, sondern auch die westlichen (Finanz-)Sanktionen gegen russische und weißrussische Dünger- und Lebensmittel-Lieferungen führen aktuell zu den dramatischen Preissteigerungen und Engpässen in den ärmeren Ländern der Welt und potenziell zum Hungertod vieler Menschen. Und auch die gestiegenen Preise für Energie und Rohstoffe treffen die ärmeren Länder der Welt besonders hart.

 

Um diese Entwicklung zu stoppen, müssten EU und Nato energisch Sekundärsanktionen gegen alle Staaten der Welt und deren Unternehmen verhängen und durchsetzen, die sich dem Willen des Westens nicht beugen und weiter mit Russland Handel treiben. Ob dies überhaupt durchsetzbar ist - und welche politischen und ökonomischen Kosten für den Westen damit verbunden wären, sollten sich die Verantwortlichen in den westlichen Hauptstädten gut überlegen, bevor sie einen weltweiten Wirtschaftskrieg aller gegen alle einläuten.

 

Russlands Wirtschaft droht "kolossale Primitivisierung"

Das dilettantische Vorgehen westlicher Verantwortungsträger bedeutet keineswegs, dass nicht auch Russland von dem Wirtschaftskrieg enorm in Mitleidenschaft gezogen wird - auch, wenn der von vielen vorhergesagte schnelle Zusammenbruch bislang ausblieb. Der Wohlstandsverlust breiter Bevölkerungsschichten ist schon jetzt spürbar. Zwar sind manche antirussischen Sanktionen weitgehend wirkungslos, andere jedoch keineswegs, denn vorerst lässt sich nur ein Teil des Imports durch andere Lieferanten ersetzen: Ganze Branchen wie die zivile Luftfahrt befinden sich daher buchstäblich im Sturzflug. Aeroflot, noch vor einem Jahr eine der besten Airlines Europas, ist praktisch komplett vom internationalen Markt verschwunden. Geradezu anekdotenhaft klingen die Probleme der russischen Baubranche, die aufgrund der Sanktionen all ihre neu gebauten Hochhäuser kaum noch mit Fahrstühlen ausstatten kann (Bericht Kommersant, Russisch).

Besonders problematisch ist auch die Abwanderung Zehntausender gut ausgebildeter Fachleute ins Ausland, die kaum zu füllende Lücken hinterlassen. Sie treffen insbesondere Branchen, in denen Russland auf dem Weltmarkt zuletzt wettbewerbsfähig war - etwa den IT-Bereich, dem unzählige Programmierer fehlen. Aber auch der Weggang westlicher Konzerne schadet der russischen Bevölkerung massiv, da unzählige Arbeitsplätze verloren gehen. Längst nicht alle Arbeitgeber kümmern sich beim Rückzug aus Russland um ihre Belegschaft, und längst nicht überall lässt sich das Problem so schnell lösen, wie bei jener weltbekannten Junkfood-Kette. Deren Filialen machen nach einem Austausch der Firmenlogos mit praktisch gleichem Angebot und denselben Mitarbeitern weiter - nur unter anderem Namen und ohne Pflicht, Franchisegebühren in die USA zu zahlen. 

 
Alexander Ausan, einer der klügsten russischen Ökonomen und Dekan an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Lomonossow-Universität sieht Russlands Wirtschaft vor einer "kolossalen Primitivisierung" - ähnlich, wie in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. In die nähere Zukunft blicke er pessimistisch, weil Russland ohne westliche Technologien nicht den bisherigen Lebensstandard halten könne, sagte er in einem hörenswerten Gespräch mit dem Videoblogger Ilja Warlamow. Allerdings habe das Land einen Vorteil im Wirtschaftskrieg gegen den Westen: die extrem hohe, kreative Anpassungsfähigkeit der Bevölkerung: "Bei uns wenden sich die Menschen in einer Krisenlage nicht mit Forderungen an die Regierung, sondern beginnen, irgendwie ihr Leben an die neuen unangenehmen Umstände anzupassen."


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