Ausgerechnet in der womöglich kompliziertesten Region der Welt war Moskaus Diplomaten lange Zeit ein echtes Kunststück gelungen: Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb Russland
zeitweise die wohl einzige Macht, die gute Beziehungen zu allen Konfliktparteien in der Region unterhielt. Enge Kontakte gab es gleichermaßen zu Israelis, Arabern und dem Iran, zu konservativen Monarchen wie zu säkularen Regimen. Nicht einmal Moskaus Parteinahme im syrischen Bürgerkrieg zugunsten des damals selbst in der arabischen Welt isolierten Assad-Regimes konnte dies ändern. Doch nach dem Hamas-Überfall auf Israel Anfang Oktober 2023 zeichnet sich ein Schwenk in der russischen Nahost-Politik ab. Der fürchterliche neue Krieg um Gaza lenkt zwar die Aufmerksamkeit westlicher Hauptstädte weg von der Ukraine, aber er birgt für Russland auch erhebliche Risiken.
Die russische Staatsspitze hielt sich im Oktober auffällig lange zurück mit einer klaren Verurteilung des Hamas-Terrors. Stattdessen waren aus Moskau eher allgemeine Aufrufe zu hören, die
Gewaltspirale müsse durchbrochen werden. Präsident Putin sprach auf einem Gipfel der GUS-Staaten zwar von einem "in seiner Brutalität beispiellosen Angriff" der Hamas auf Israel und
räumte ein, Israel habe das Recht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Gleich darauf zog er aber Parallelen zwischen der humanitären Situation im Gaza-Streifen und der Leningrader Blockade
(Bericht RBK,
Russisch). Damit rückte er das Vorgehen der Israelis in die Nähe eines der fürchterlichsten Verbrechen der Nationalsozialisten, das mindestens eine Million Menschenleben
in Putins Heimatstadt gefordert hatte.
Nicht nur mit diesem Vergleich ging Moskau auf deutliche Distanz zu Israel. Noch im Oktober wurde im russischen Außenministerium eine Delegation der Hamas empfangen - offizielles Thema war
die Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln und die Ausreise russischer Staatsbürger aus dem Kriegsgebiet (Bericht: Nowaja
Gaseta Jewropa, Russisch).
Eine einheitliche Haltung zum Nahost-Konflikt gibt es in Russland nicht - weder im Pro-Putin-Lager, noch unter Oppositionskräften. Zum Teil ist dies durch den
multiethnischen und multireligiösen Charakter des Landes bedingt. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Menschen im Land machen sich Sorgen um Verwandte und Freunde, die als
sowjetische Juden nach Israel ausgewandert sind. Sogar Wladimir Solowjow, einer der übelsten TV-Propagandisten und Hetzer, erklärte in seiner Sendung (zitiert nach Lenta.ru, Russisch): "Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Aber wenn Russland nicht eine militärische Spezialoperation durchführen würde, dann würde ich
jetzt nach Israel reisen, weil die Juden aus aller Welt dorthin kommen, um nach dieser schrecklichen Tragödie ihr Volk zu verteidigen." In den
traditionell muslimischen Regionen Russlands gibt es derweil viel Sympathie für die Palästinenser.
Am 29. Oktober wurde schlagartig klar, welche Sprengkraft der Nahostkonflikt auch für Russland selbst hat - und zwar ausgerechnet in Dagestan, einer muslimisch geprägten Teilrepublik am Kaspischen Meer mit seinen unvorstellbar großherzigen und gastfreundlichen Menschen. Dort
stürmte ein judenfeindlicher Mob
(Augenzeugenberichte bei Mediazona) den Flughafen der Hauptstadt Machatschkala. Zuvor hatten sich im Internet
Gerüchte verbreitet, mit einer Maschine aus Tel Aviv würden zahlreiche Israelis versuchen, vor dem Gewaltausbruch nach Russland zu entkommen. Die Staatsmacht mit all ihren hochgerüsteten
Sicherheitskräften war dem Mob hilflos unterlegen, Bilder vom Rollfeld, wo aufgehetzte junge Männer irrwitzigerweise selbst in einer Flugzeugturbine nach Juden suchten, gingen durch die
Welt. Am Flughafen entstand erheblicher Sachschaden, mehrere Menschen wurden verletzt.
Die Reaktion des Staates blieb vergleichsweise milde. Bereits kurz nach der Sturm des Flughafens waren einige Teilnehmer zu jeweils wenigen Tagen Arrest verurteilt worden. Das erscheint vor dem
Hintergrund des Umgangs mit Gegnern des russischen Kriegskurses in der Ukraine sehr großherzig - wo jegliche Form von öffentlichem Widerspruch für Jahre hinter Gitter führen
kann, wie aktuell im Fall der dramatische Fall der Künsterlin Alexandra Skotschilenko deutlich macht
(Informationen bei Amnesty International). Die wahrscheinlichste Ursache dafür ist, dass Moskau letztlich die Reaktion der Menschen seiner muslimischen Bürger fürchtet - vor allem in
Dagestan.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hatte Israel sich nicht an den antirussischen Sanktionen beteiligt. Offiziell gab es auch keinerlei
Waffenlieferungen an die Ukraine. Der damalige israelische Naftali Bennett fungierte in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn stattdessen sogar als Vermittler bei den - von westlicher
Seite sabotierten und schließlich gescheiterten - Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau (Ausführlich dazu z.B. Telepolis). Im Gegenzug nahm Russland
Rücksicht auf israelische Interessen in der arabischen Welt, ließ die Israelis beispielsweise gewähren, wenn sie auf dem Gebiet des Nachbarlandes Syrien proiranische Kräfte bekämpften. Von
den komplizierten, aber letztlich pragmatischen Beziehungen profitierten so beide Staaten.
Doch damit scheint es vorbei zu sein. Den der Ton zwischen den Regierungen beider Länder wird rauer, was nicht zuletzt mehrere Wortgefechte zwischen den beiden UN-Botschaftern belegen.
"Russland ist das letzte Land, das uns Lehren erteilen wird", empörte sich Israels Vertreter bei den Vereinten Nationen Gilad Erdan nach heftiger Kritik seines
russischen Gegenübers Wassili Nebensja an Israels Besatzungspolitik (Bericht
Kommersant, Russisch). Der frühere israelische Botschafter in Moskau, Arkady Mil-Man (Milman) konnte auch in einigen deutschen Medien die These vertreten, es gebe keine Zweifel daran, dass
Russland fest an der Seite der Hamas stehe und die Behauptung aufstellen, russische Ausbilder hätten die Hamas-Terroristen trainiert (Gastbeitrag im Münchner Kurier).
https://carnegieendowment.org/politika/90976