"Können Sie sich vorstellen, wie Jimi Hendrix ein Lied zur Unterstützung des Vietnam-Kriegs singt? Ich nicht."
Boris Grebenschtschikow (* 1953), russischer Rockmusiker
Egal, ob bei den Liedermachern der Sowjetzeit oder den russischen Rockern - die erlebte Ohnmacht gegenüber Krieg und Gewalt und der Wunsch nach Frieden sind eines der großen Themen der Musiker in Russland. Verarbeitet wurden die Erlebnisse und Traumata all jener gewaltsamen Exzesse, die sich durch die russische Geschichte ziehen: Vom Bürgerkrieg und dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion über Afghanistan und Tschetschenien bis in die Gegenwart. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sind viele dieser Lieder erneut auf tragische Weise aktuell. Der Rhein-Wolga-Kanal stellt die zehn besten russischen Anti-Kriegs-Lieder vor.
Das wohl eingängigste russische Anti-Kriegs-Lied schrieb Juri Schewtschuk, langjähriger Chef der Rockband DDT, schon Anfang der 1980er-Jahre - unter dem Eindruck eines Treffens mit seinem Jugendfreund. Der war als Wehrpflichtiger nach Afghanistan geschickt worden und musste die Särge mit den ersten toten Sowjetsoldaten überführen. Als Schewtschuk das Lied erstmals aufführte, brachte ihm das mächtigen Ärger mit der örtlichen Parteiführung und dem KGB ein. Eine zutiefst pazifistische und Menschen zugewandte Grundhaltung zieht sich durch viele andere Titel von DDT. Seit 2022 ist die Band mit einem faktischen Auftrittsverbot in Russland belegt, auch, weil Schewtschuk immer weiter gegen den Krieg angesungen hatte. (Im Video ab 2:26:00)
...И когда кто-нибудь вспоминал о войне,
Он топил свою совесть в тяжелом вине.
Перед ним, как живой, тот парнишка стоял.
Тот, который его об одном умолял:
Не стреляй!
...Und sprach irgendwer ihn auf den Krieg später an
ertrank sein Gewissen tief im Weinglas, und dann
erschien stets jener Junge wie lebendig im Licht
der nur drei Worte sagte voller Furcht im Gesicht:
Schieß doch nicht!
In den 1990er-Jahren setzte Olga Arefjewa mit ihrer Band Kowtscheg ("Die Arche") zum Beweis an, dass auch Russen Reggae spielen können. Ihr Song "Der Krieg kann uns mal" ist ein Aufruf an alle Soldaten, die Waffen wegzuschmeißen - und wurde schnell zu einer Hymne russischer Kriegsgegner.
Я видела, как старый солдат и матрос
бросили свой корабль и свой пост -
"На хрена нам война,
пошла она на!" -
Сказали старый солдат и матрос...
Ein Soldat und ein Bootsmaat, ich hab es gesehen,
ließen ihr Schiff und den Wachtposten stehen.
"Der Krieg kann uns mal,
zum Teufel mit ihm!"
Soldat und Bootsmaat war er jetzt egal...
Bulat Okudschawa (1924-1997), der große sowjetische Chansonnier, wurde oft mit Bob Dylan oder Georges Brassens verglichen. Viele seiner Lieder, in denen Okudschawa sich stets selbst auf der Gitarre begleitete, handeln vom Krieg. Im "Liedchen meines Lebens" singt der regimekritische Liedermacher von den großen Themen Liebe, Krieg und Verrat. Im Alter von 18 Jahren war Okudschawa selbst an die Front in den Kaukasus geschickt und dort schwer verwundet worden. Die Erlebnisse im Krieg hätten ihn sein Leben lang gezeichnet, sagte er später.
А как первая война - да ничья вина.
А вторая война - чья-нибудь вина.
А как третья война - лишь моя вина,
а моя вина - она всем видна.
Ach, am ersten Krieg, da war niemand schuld.
Und am zweiten Krieg war dann doch jemand schuld.
Doch den dritten Krieg hab´ ich selbst verschuldet,
hab die machen lassen, hab´ ihr Treiben geduldet.
(Übertragung Tino Eisbrenner)
Mit ihrer antimilitaristischen Rock-Hymne gelang der sowjetischen Band "Nautilus Pompilius" auf ihrem Album "Fürst der Stille" von 1986 ein echter Hit. Wjatscheslaw Butussow singt sich darin all seine negativen Gefühle gegen den Drill in der Armee von der Seele. Die Jugendlichen der Perestroika-Zeit kannten den Song alle auswendig.
Я вижу песню вдали но я слышу лишь
Марш марш левой
Марш марш правой
Я не видел картины дурней
чем шар цвета хаки
Weit entfernt seh´ ich ein Lied, doch ich höre nur
Links, Marsch, Marsch!
Rechts, Marsch, Marsch!
Kein übleres Bild gab es je anzuschaun,
als die Erdkugel in khaki-braun.
Siebzig Jahre schon ist Krieg, als "Oberst Wassin" an die Front fährt und seinen Soldaten sagt, sie sollten nach Hause gehen. Denn die eigene Aufklärung habe bestätigt, dass man all die Zeit bloß sich selbst bekämpfte. Das bekannte Lied von Boris Grebenschtschikow und seiner Band "Aquarium" aus dem Jahr 1988 handelt vordergründig vom Krieg, aber man kann alles auch als Anspielung auf die Jahrzehnte des Sowjetsystems verstehen. Grebentschikow, seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Vertreter der russischen Rock, hat nach dem Kriegsbeginn 2022 offenbar dauerhaft sein Heimatland verlassen müssen.
А кругом горят факелы -
Идет сбор всех погибших частей.
И люди, стрелявшие в наших отцов
Строят планы на наших детей.
Нас рожали под звуки маршей,
Нас пугали тюрьмой.
Но хватит ползать на брюхе -
Мы уже возвратились домой.
Fackeln lodern im Kreise,
ein neuer Bund der Toten beinah.
Doch die, die unsere Väter erschossen,
sitzen planend für unsere Kinder da.
Unter Marschmusik sind wir geboren,
erschreckt hat man oft uns mit Knast.
Nun reichts endgültig, auf dem Bauch zu kriechen.
Fast sind wir schon zu Hause -- fast.
(Übertragung Karl Wollf / planetaquarium.com)
Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Anna Gerassimowa aus Moskau ist seit vielen Jahren unter dem Pseudonym "Umka" (nach einem sowjetischen Trickfilm über einen gleichnamigen kleinen Eisbären) als Singer-Songwriterin unterwegs. In ihrem für das Genre ungewöhnlich frölhichen Antikriegs-Lied besingt sie, dass wenigstens keine Regeln mehr gelten müssen, wenn sowieso alle sterben und das Leben ein Albtraum ist. Im Netz kann man neben weiteren Liedern gegen Krieg und Gewalt auch eine russische Version von Bob Dylans "Masters of War" von Umka finden.
Здравствуй, каменный век!
Вот теперь я человек!
Не рабочий, не бездельник,
Не начальник, не подельник -
Вот теперь я человек!
Hallo, die Steinzeit bricht an,
in der ich endlich Mensch sein kann.
Kein Arbeiter, kein Vagabund
kein Mitläufer, kein Harter Hund,
jetzt, wo ich endlich Mensch sein kann.
Alexander Wertinskis Romanze "Was ich zu sagen habe" entstand 1917 kurz nach der Oktoberrevolution und ist möglicherweise eines der ältesten russischen Anti-Kriegs-Lieder. Der Künstler schrieb die Zeilen unter dem Eindruck der Kämpfe, die nach dem Umsturz in Moskau ausbrachen und das Leben mehrerer Hundert junger Kadetten forderten. Zahlreiche andere Künstler nahmen das Lied später in ihr Repertoire auf.
Я не знаю, зачем и кому это нужно,
Кто послал их на смерть недрожавшей рукой,
Только так беспощадно, так зло и ненужно
Опустили их в Вечный Покой!
Ich weiß nicht warum, und wer es nötig hatte,
dem Tod sie zu opfern, ohne Wimpernschlag geradezu.
Doch so gnadenlos, so unnütz, so böse,
schickte man sie fort zur Ewigen Ruh.
Im Jahr 2014, nach dem Beginn des kriegerischen Konflikts in der Ost-Ukraine, veröffentlichte die ansonsten eher unpolitische russisch-weißrussische Rockband Bi-2 einen düsteren Anti-Kriegs-Song. Im dazugehörigen Video färben sich die weißen Sakkos der Bandmitglieder zum Ende hin blutrot. Manche in Russland interpretierten das Lied als Unterstützung für die Ukraine, aber explizit geht das aus dem Text nicht hervor.
...Над рекою пылает взорванный мост.
Нам победу над слабым бросают, как кость.
В долгих поисках правды — верим вранью,
Дальше думать не надо…
Die Brücke am Fluss ist in Flammen zerbrochen,
Den Sieg über Schwache wirft man hin wie ´nen Knochen
Lange suchten wir Wahrheit, jetzt glauben wir Lügen,
bloß nicht mehr denken...
Einige Zeilen aus einem Kosaken-Lied in Scholochows "Der Stille Don" inspirierten den Folksänger Pete Seeger einst zu seinem weltbekannten "Sag mir, wo die Blumen sind". Mascha Makarowa von "Mascha und die Bären" und Oleg Nesterow, Sänger der Moskauer Rockband "Megapolis" zeichneten 1999 ein Duett mit einer etwas ungewöhnlich arrangierten, russischen Version des Songs auf.
...Где солдаты? Дай ответ.
Легли в могилу - и вот их нет.
Когда же все это поймут?
Когда же все поймут?
...Sag, wo die Soldaten sind.
Über Gräbern weht der Wind.
Wann wird man je versteh′n?
Wann wird man je versteh'n?
Der afroamerikanische Gospelsong "Down by the Riverside" aus dem 19. Jahrhundert hätte natürlich in einer Sammlung russischer Anti-Kriegs-Lieder eigentlich nichts zu suchen - wäre da nicht der Estrada-Sänger Muslim Magomajew. Der "sowjetische Sinatra" hinterließ der Welt eine der besten Interpretationen des Friedensliedes - mit einigen Strophen, die sich weder in der ursprünglichen Version, noch bei anderen Interpreten finden.
...I'll kiss my little baby,
Down by the riverside,
Down by the riverside,
Down by the riverside.
I'll kiss my little baby,
Down by the riverside,
Study war no more.