"Im Ural trug jeder größere Stein in sich unsterbliche Überlieferungen."
Dmitri Mamin-Sibirjak (1852-1912), russischer Schriftsteller
Mehrere langgezogene Bergkämme, deren Gipfel bis zu 1.400 Meter hoch aufragen, Bäche und Flüsse, unberührte Taiga und ein eigentümlich geformter großer Bergsee bilden den Nationalpark Sjuratkul im Ural. Die eindrucksvolle Naturlandschaft 200 Kilometer westlich von Tscheljabinsk wurde 1993 unter Schutz gestellt. Auf einer Fläche von knapp 90.000 Hektar gibt es ein einziges kleines Dorf, abseits der Siedlung sind Menschen nur auf einigen Wanderwegen als Gäste geduldet - ansonsten gehören Wälder, Berghänge und Wildblumenwiesen den zahlreichen Tieren. Neben Füchsen, Auerhähnen und Elchen zählt die Nationalparkverwaltung allein rund 50 Bären auf dem Territorium. Wer keinen gehobenen Standard benötigt, kann am Seeufer einige Tage lang die Zivilisation vergessen, die Berglandschaft erwandern oder in Begleitung eines Rangers auf mehrtägige Expeditionen gehen. Wir waren hier im Sommer 2017 bei einer Rundreise durch den südlichen Ural.
Insgesamt wird der Nationalpark von 150 Vogel- und 40 Säugetierarten bevölkert. Die Landschaften sind äußerst vielseitig. In den Tälern überwiegen dichte Nadelwälder, in Hanglagen breiten sich beeindruckende Wiesen aus, die Berghöhen sind hingegen felsig und praktisch kahl. Von Südwesten nach Nordosten durchziehen mehrere Bergzüge den Nationalpark. Der größte von ihnen, Nurgusch, ist 50 Kilometer lang. Wer ihn erwandern will, braucht eine gute Ausrüstung und einen Bergführer. Der Sjuratkul-Höhenzug am Nordrand des Parks liegt in direkter Nähe zum gleichnamigen See und ist durch einen Wanderpfad erschlossen. Der eigentümliche Name des Sees geht wohl auf den baschkirischen Begriff Jurak-Kul ("Herz-See") zurück. In englischsprachigen Materialien werden See und Park oft auch als "Zyuratkul" transkribiert.
Die Gegend um den See wirkt zwar einsam und naturbelassen, war allerdings nachweislich bereits vor Jahrtausenden von Menschen besiedelt. Archäologen entdeckten direkt am Seeufer Tonscherben und
Steinwerkzeuge. Sie vermuten, dass schon um das Jahr 3000 vor Christus hier ein Weg von Ost nach West durch den Ural verlief.
Die größte archäologische Sensation der Region wurde allerdings erst vor einigen Jahren dokumentiert. Zwischen See und Sjuratkul-Bergkamm befinden sich die Überreste eines 218 Meter
langen Geoglyphen, der riesigen aus Steinen gelegten Erdzeichnung eines Elchs. Das Steinzeitkunstwerk
ähnelt den weltbekannten Nazca-Linien in Peru. Allerdings ist der Geoglyph vom Boden aus ohne fachkundige Führung nicht so ohne weiteres zu entdecken. Was es mit dem riesigen Elch auf
sich hat, ist abschließend noch nicht erforscht.
Ein Besuch im Sjuratkul-Nationalpark erfordert eine gewisse Vorbereitung: Im einzigen Ort am Seeufer gibt es zwar ein Hotel und eine Handvoll einfacher Unterkünfte ("Turbasa"). Privatleute vermieten einzelne Zimmer ihrer Holzhäuser und bieten ihre Gärten zum Zelten an. Wer ein festes Dach über dem Kopf bevorzugt, muss sich unbedingt rechtzeitig vor der Anreise darum kümmern, denn im Sommer gibt es oft keine freien Zimmer mehr. Auch im Winter, insbesondere in der Zeit zwischen Neujahr und orthodoxem Weihnachtsfest, sind alle Unterkünfte meist lange im Voraus ausgebucht. Dann kommen die Freunde von Touren mit Langlaufskiern und Husky-Schlittenhunden auf ihre Kosten. Wir übernachteten in einem recht neuen Holzhaus der Turbasa "U Wodopada" ("Am Wasserfall") wenige Schritte vom See entfernt. Die Busverbindung zum See wurde vor vielen Jahren eingestellt, wer nicht mit dem eigenen Auto kommt, muss am Bahnhof in Berdjausch oder in der Kreisstadt Satka für die letzten 30 Kilometer (größtenteils Schotterstraße) ein Taxi nehmen.
Hauptattraktion für Kurzzeitbesucher ist der "Öko-Pfad", der vom Dorfausgang bis zum Gipfel des Sjuratkul-Bergkamms führt. Der Weg ist sechs Kilometer lang (einfache Richtung) und führt
auf einer relativ kurzen Strecke durch ganz unterschiedliche Naturräume und Landschaften. Die erste Hälfte ist bequem auf Bohlenwegen zu erwandern. Am Startpunkt informieren Schautafeln
über Tier- und Pflanzenwelt. Und ein Schild warnt ausdrücklich: "Ein Bär ist ein Bär - und kein Teddy." Wanderern wird empfohlen, sich ruhig laut zu unterhalten oder zu singen,
den Bären mögen nicht überrascht werden. Im Falle einer Begegnung sei langsamer Rückzug angesagt, bei einer Attacke handele es sich meist um einen Scheinangriff, den der Bär in
letzter Sekunde abbrechen werde. Falls nicht, möge man eine "Embryonalhaltung" einnehmen.
Nach einigen Kilometern durch die Taiga folgt ein Streckenabschnitt durch wunderschöne, hochwachsende Wildblumenwiesen. Hier zweigt ein zweiter Pfad ab, der bis auf die Spitze des einsam
stehenden Bergs Golaja Sopka führt.
Vor dem Sjuratkul-Gipfel gilt es dann, eine ganze Reihe recht steiler Geröllhalden zu überqueren, bei Regenwetter ist das nicht ganz einfach. Vom Bergrücken aus bieten sich fantastische
Fernblicke in alle Richtungen: in südlicher Richtung auf den See, das Nurgusch-Bergmassiv und weiter entfernt, bereits auf dem Gebiet der Republik Baschkortostan, auf den zweithöchsten
Berg des Süd-Urals Iremel. Im Norden sind bei gutem Wetter die Stadt Satka und die riesigen Schornsteine des Magnesit-Kombinats auszumachen.
Vor dem Start kann ein Blick auf den Wetterbericht nur bedingt hilfreich sein: Das Wetter schlägt im Nationalpark innerhalb kürzester Zeit um.
Südlich das Dorfs bildet der aufgestaute Sjuratkulsee eine spitze langgezogene Halbinsel. An deren Ende befand sich einst eine weit über die Grenzen der Region bekannten Touristenattraktion: "Kitows Hafen" - eine Art russisches Mini-Disney-Land mitten in der Wildnis. Ein Unternehmer namens Juri Kitow, der laut Berichten von Einheimischen durch die Produktion schusssicherer Westen ein Vermögen machte, wollte sich seinen Traum verwirklichen: Am Sjuratkulsee baute er eine auf altrussisch getrimmte Stadt mit Hafen, Handelsschiffen, orthodoxer Kapelle und allerlei anderen Besucherattraktionen. Nach jahrelangem Rechtsstreit zwischen Nationalpark und Unternehmer befanden Richter, all diese Dinge dürfe es dort gar nicht geben und ordneten den Abriss an. Die Kirche konnte stehenbleiben, ebenso ein Nachbargebäude, das langsam in sich zusammenfällt und eine gepflegte Millionärsvilla. Wer darin wohnt, wissen wir nicht. Kitow hat sich inzwischen mit einem ganz ähnlichen Projekt in der Kreisstadt Satka verewigt. Sein neuer, altrussischer Freizeitpark vor dem Hintergrund riesiger
Abraumhalden hat etwas recht Unwirkliches.
Die meisten Touristen im Sjuratkul-Nationalpark sind Selbstversorger, die ihren Proviant und einen Campingkocher im Auto mitbringen. Für alle anderen wird es etwas schwierig. Es gibt vor Ort zwei kleine Lebensmittel-Läden mit stark eingeschränkter Warenauswahl. Oft gibt es nicht einmal frisches Brot zu kaufen, weil die Großbäckereien das abgelegene Dorf nicht beliefern wollen.
Ein Café in der Nähe des Seeufers hatte während unseres gesamten Aufenthalts geschlossen. Was es allerdings gibt, sind mehrere Familien die Besucher bei sich zu Hause
bekochen. Wir landeten zum Frühstück und Abendbrot in einer Art Holzverschlag von Irina und Alexander am nördlichen Dorfende (Uliza Glawnaja 29), von außen leicht zu erkennen an dem
Schild "Zum Essen hier her". Von außen sah alles ein wenig primitiv aus, aber hier gab es wirklich leckeres Essen! Eine Voranmeldung ist erwünscht, aber für einen
gestrandeten polnischen Motorradfahrer hat die Köchin Irina auch etwas improvisieren können. Spezialität des Hauses sind Gerichte aus Kaninchen. Wer freundlich fragt, kann auch die Ställe
besichtigen und sich überzeugen, dass die Tiere vernünftig gehalten werden.