"Über Murmansk - keine Regenwolken und kein Wölkchen..."
Wladimir Wyssozki (1938-1980), sowjetischer Sänger und Schauspieler in "Moskau-Odessa"
Eine gerade einmal 100 Jahre kurze, dafür aber ziemlich stürmische Geschichte hat gereicht, um das nordrussische Murmansk zu einer Legende werden zu lassen. Auf der ganzen Welt gibt es keine größere Stadt nördlich des Polarkreises. Mitternachtssonne im Sommer und Wochen voller Dunkelheit im langen Winter bestimmen den Jahresrhythmus der Menschen. Der dank Golfstrom eisfreie Hafen am felsigen Kolafjord ist einer der größten von ganz Russland. Von den für Ausländer bis heute geschlossenen benachbarten Hafenstädten aus hält die russische Atomeisbrecher-Flotte die Schifffahrtswege im Nordpolarmeer frei - und die russische Kriegsmarine mit ihren U-Booten die Nato auf Trab. Murmansk ist kein Ort zum Urlaub machen, hier wird gearbeitet - Fabrikschlote qualmen und Hafenkräne quietschen. Dennoch lohnt ein Besuch in dieser Stadt, die Russlands Tor zur Arktis wurde.
Murmansk gilt als letzte Stadt, die noch im Russischen Zarenreich gegründet wurde: Während des Ersten Weltkriegs entstand an dem strategisch wichtigen Fjord - 35 Kilometer von dessen Mündung in die Barentssee entfernt - ein Hafen. Im Oktober 1916 wurde offiziell die Stadt Romanow am Murman gegründet, benannt zu Ehren der Zarendynastie der Romanows. Nach der Februarrevolution erhielt Murmansk seinen heutigen Namen. Im Russischen Bürgerkrieg griffen Truppen der West-Alliierten auf Seiten der antikommunistischen Weißen Bewegung ein, Briten und Amerikaner besetzten zeitweise die junge Stadt. Zwanzig Jahre später, während des Zweiten Weltkriegs, wurde Murmansk zum wichtigen Zielhafen für Hilfslieferungen der Anti-Hitler-Kräfte. Deutsche und finnische Angreifer zerstörten hier alles, konnten die Stadt aber nie einnehmen. Das erklärt, dass es in Murmansk keine architektonischen Sehenswürdigkeiten gibt.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der damaligen schweren Wirtschaftskrise hat die Gebietshauptstadt rund ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren. Aktuell leben noch rund 300.000
Menschen in Murmansk. Die Stadt ist von großen grauen Plattenbauvierteln geprägt, die auf die Felsen gebaut wurden. Einige Straßen im Zentrum sind im Stil der Stalin-Ära nach dem Krieg
wiederaufgebaut worden.
Wegen der großen Anzahl von Militärstützpunkten blieb Murmansk bis 1991 eine für Ausländer geschlossene Stadt. Die kleineren Garnisonsorte in der Umgebung wie Seweromorsk oder
Widjajewo sind bis heute für Reisende Tabu - ebenso wie ein großer Teil der Küste. Letzteres fällt weniger auf, weil es dorthin ohnehin keine Straßen gibt.
Murmansk ist täglich mit der Eisenbahn (von St. Petersburg dauert es 24 Stunden, von Moskau rund 30 Stunden) oder mit dem Flugzeug zu erreichen. Außerdem gibt es eine direkte Busverbindung über die Grenze nach Kirkenes in Norwegen. In
der Stadt starten auch Kreuzfahrten zum Nordpol oder zu den entlegenen arktischen Besitztümern Russlands wie dem Archipel Nowaja Semlja. Wer dort an Bord will, muss mit einer fünfstelligen Summe
kalkulieren (Euro, nicht Rubel!).
Die sowjetische Führung hatte bereits Anfang der 1950-er Jahre beschlossen, mit Atomenergie angetriebene Eisbrecher zu bauen, um die Schifffahrtswege nördlich von Sibirien für Frachter freihalten
zu können. Die "Lenin" war das erste derartige Schiff - der 143 Meter lange Eisbrecher der Superlative liegt heute im Hafen von Murmansk vertäut, kann seit einiger
Zeit an fünf Tagen in der Woche (außer montags und dienstags) im Rahmen von Führungen besichtigt werden und ist ohne jeden Zweifel die bedeutendste und
eindrucksvollste Sehenswürdigkeit in der Stadt.
Das 1957 fertiggebaute Schiff, das 1959 nach dem Hochfahren der Atomreaktoren in Betrieb genommen wurde, war 30 Jahre lang bis 1989 im Dauereinsatz. Der Atomeisbrecher
"Lenin" begleitete Karawanen von Frachtern mit Öl und Lebensmittel zu den entlegenen Siedlungen Nordsibiriens und sorgte dafür, dass auch die wertvollen Rohstoffe aus dem eisigen
Norden der Sowjetunion abtransportiert werden konnten. Mit über 240 Mann Besatzung war der Betrieb so ausgelegt, dass die "Lenin" bis zu zwölf Monate lang auf See bleiben
konnte, ohne einen Hafen anzulaufen.
Ein Offizier der russischen Atomeisbrecher-Flotte führt Besucher zu bestimmten Zeiten (im Sommer 2018 um 12:00, 14:00 und 16:00) durch das Schiff. Zu sehen sind die Brücke und der
Reaktor-Kontrollraum, die an Bord befindliche Klinik mit Operationssaal, der Maschinenraum und Konferenzraum. Berichte über die schweren Störfällen an Bord, die es auch gab, gehören
offenbar nicht zum Standard-Programm. Der für russische Verhältnisse stolze Ausländer-Eintrittspreis von 500 Rubel (derzeit 6,25 Euro) ist dennoch durchaus angemessen.
Seit 1974 ragt auf einem Hügel nördlich des Murmansker Stadtzentrums ein riesiger Beton-Soldat in die Höhe. Bei der - im Volksmund "Aljoscha" genannten Skulptur handelt es sich um ein Monument des Monumentalkünstlers Isaak Brodski für die Verteidiger der sowjetischen Arktis. Zusammen mit einer steinernen Pyramide bildet der riesige Soldat die zentrale Gedenkstätte der Region für die vielen Weltkriegsopfer. Mit einer Gesamthöhe von über 40 Metern ist der Verteidiger der Arktis eines der höchsten Denkmäler Russlands.
"Aljoscha" ist an seinem Standort 170 Meter über dem Meeresspiegel vielen Punkten in der Stadt zu sehen, während des Krieges befand sich an seinem Standort eine sowjetische Luftabwehr-Stellung. Die Aussicht von dort auf den Fjord und die Stadt ist recht eindrucksvoll. Wer zu der Gedenkstätte will, nimmt am besten ein Taxi. Von der nächsten Bushaltestelle aus ist der Weg recht kompliziert und führt durch etliche verwahrloste Hinterhöfe.
Das Zentrum von Murmansk ist recht kompakt - vom hübschen Bahnhof bis zum "Platz der fünf Ecken" ("Ploshshad 5-i uglow") mit dem imposanten Hochhaus des früheren Hotels "Arktika"
sind es nur wenige Schritte. Alles wirkt sehr sowjetisch, und als Besucher spürt man, dass Murmansk nicht unbedingt zu den wirtschaftlich stärksten Gebietszentren Russlands zählt. Hier führt
auch die Hauptstraße der Stadt der breite Lenin-Prospekt entlang, hier befinden sich die meisten Läden, auch einige größere Ketten sind an dieser Straße vertreten. Zwischen Bahnhof und Küste des
Kola-Fjords liegen fast ausschließlich Bahn- und Hafenanlagen.
Wer noch Zeit in der Stadt hat, kann einige Museen besuchen, das regionale Heimatkundemuseum wird zuweilen in Reiseführern gelobt. Wir empfehlen auf jeden Fall, in einen der höher gelegenen
Stadtteile zu fahren. Nördlich des "Aljoscha"-Monuments gibt es an der Endhaltestelle der Buslinie eine weitere Aussichtsplattform mit einem Denkmal für die wartende Matrosen-Frau. Der
Blick auf Felsen, Hafenkräne und Fabrikschlote von dort hat durchaus etwas an sich.
In Murmansk gibt es kein übermäßig großes Angebot an vernünftigen Restaurants und Cafés. Während unseres kurzen Aufenthalts in der Stadt waren wir eigentlich auf der Suche nach einem ganz anderen
Lokal, das aber mittlerweile für immer geschlossen hatte. Stattdessen erwartete uns vor Ort (Uliza Samoilowoi 5) ein Selbstbedienungsrestaurant namens "Tarelka"
("Teller") mit großer Auswahl an sehr leckeren Gerichten und nettem Ambiente. Besonders angetan waren wir von den Fischfrikadellen und den großen Eisbären-Fotos an der Wand.
Erst nach der Rückkehr habe ich verstanden, dass es sich bei "Tarelka" um eine richtige Kantinen-Kette handelt, die auch in Moskau und St. Petersburg schon präsent ist.