Moskaus "Angesehene Stadtviertel"

Moskau Stadtrand Trabantenviertel
Neubauten am Stadtrand von Moskau

Kaum etwas auf der Welt ist komplizierter, als in Moskau eine gescheite Wohnung zu finden. Das war in den Umbruchjahren nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht viel anders als heute. Ein persönlicher Rückblick:

 

Moskau (April 2000). Zugegeben, selbst manche russische Freunde verzogen den Mund zu einem Grinsen, als sie unsere neue Adresse hörten. "Wir wohnen jetzt in der Dritten Heizkörperstraße, Haus 13." Nein, angeben konnte man mit einer solchen Anschrift nicht. Im Nordwesten Moskaus, versteckt hinter den Häusern der Leningrader Chaussee, liegen die drei Heizkörper-Straßen mit ihren niedrigen - das heißt fünf- bis zwölfstöckigen Wohnblocks aus verschiedenen Nachkriegsjahrzehnten - und vielen hohen Bäumen an den Straßenrändern.

Einst hatte sich direkt an der Chaussee die große Heizkörperfabrik befunden, die mit ihren Schornsteinen die Luft verpestete und mit ihren Produktionsabfällen den Boden verseuchte. Die Namen unseres Viertels erinnerten an die längst verrottete Industriekultur, an Zeiten, als das Heizkörperwerk noch nicht in einen chaotischen Baumarkt umgestaltet worden war.

 

Das war ein Segen. Von den Wohnblöcken der Heizkörperstraßen konnte man auf die großen Badeseen des angrenzenden Stadtparks blicken, im späten Frühling in warmen Nächten durch das offene Fenster die Frösche quaken hören. Und trotz allem lagen die Mieten hier deutlich niedriger als nur eine Metrostation weiter stadteinwärts im angesehenen Stadtteil Sokol. Die Moskauer waren sich ganz sicher, bei welchen Viertel der Zwölfmillionenmetropole es sich um einen "prestischny raion", einen "angesehenen Stadtteil" handelte. Sokol war "prestischny", unser Viertel einen Kilometer weiter nordwestlich mitsamt den Heizkörperstraßen war es nicht. 

 

Häuser aus der Stalin-Zeit heben das Prestige

 

Moskau Plattenbauten Butowo
Oh Plattenbau, oh Plattenbau

Je mehr Menschen in der russischen Hauptstadt zu Geld kamen, desto mehr von ihnen wollten auch standesgemäß wohnen. Villenviertel gab es in der Stadt jedoch nicht, noch nicht einmal Stadtteile mit Einfamilienhäusern. Wohnen kann man in Moskau nahezu ausschließlich in Wohnhochhäusern, zumeist unansehnlichen Plattenbauten. Und dennoch: Wer in Moskau lebt, lernt sofort, dass zwischen auf den ersten Blick identisch-eintönigen Vierteln Welten liegen können. 

 

Manchmal gab es nachvollziehbare Gründe für das Prestige eines Viertels: Es mochte an den Wohnhäusern aus der Stalinzeit liegen, an den Wohnungen mit den hohen Zimmerdecken und den verzierten Erkern, die die Straßen dort etwas menschlicher machten. Daran, dass es vor dem Fenster keine rostenden Schrotthaufen und Fabriken gab. Und natürlich an der Entfernung zur nächsten Metrostation, denn ein Viertel ohne Untergrundbahn konnte nun schon einmal grundsätzlich nicht angesagt sein.

 

Oft blieb aber ziemlich unklar, woher das hohe Ansehen kam, das einigen Stadtteilen nachgesagt wurde. Womit sich etwa die tristen Schlafstädte entlang der Ausfallstraße Rubljowskoje Chaussee ihren Status verdient hatten, muss das Geheimnis der Immobilienmakler bleiben. Fest steht, entlang der berühmten Trasse, die den Kreml mit dem Präsidentenlandsitz verbindet, ließen sich bevorzugt die Schönen und Reichen der Hauptstädter nieder. Ein Blick auf die Firmenschilder der ansässigen Boutiken und Möbelläden war Beleg dafür genug.

 

Prestige und Gier

 

Das machte die abstoßenden Sowjetblocks mit ihren blau-weißen Kacheln an den Wänden freilich noch nicht hübscher. Vom Verkehr der gewaltigen Ausfalltrasse ganz abgesehen und der nicht unerheblichen Tatsache, dass diese Straße regelmäßig für komplett gesperrt wurde, damit die Staatsspitze mit seiner Eskorte in den Kreml rasen konnte, ohne von den Untertanen gestört zu werden. In gewisser Weise war es mit den "angesehenen Stadtvierteln" so wie mit den "angesehenen Hochschulen" in Russland. Auch bei denen entpuppten sich würdevolle Namen zuweilen als Attrappen, wie ich inzwischen schmerzhaft erfahren hatte.

Moskau Begowaja
Eines der angesehenen Wohnviertel mit Häusern aus der Stalinzeit

 

Selbst wir hatten einmal eine Wohnung an der Rubljowskoje Chaussee. Auch wir spürten einen Hauch des Ansehens, der von dieser Straße ausging. Womöglich machte das "Prestige" der Gegend die dort Vermieter aber auch besonders raffgierig. Unsere Vermieterin, eine Zahnärztin, die wir über Bekannte gefunden hatten, wie es Ende der Neunziger Jahre durchaus noch üblich war, entpuppte sich — gelinde gesagt — als Betrügerin. Sie war zwar selbst offiziell in der Wohnung gemeldet, aber nicht die Eigentümerin. Das war nämlich ihr Stiefsohn. Den Vertrag mit uns hätte sie gar nicht abschließen dürfen.

 

Der ungeliebte Verwantde erfuhr eines Tages von den windigen Geschäften und stattete uns schließlich mit Polizeibegleitung einen unangenehmen Besuch ab. Unglücklicherweise wählte er dafür ausgerechnet den Tag, als wir mit Annas Kollegen eine zweite Hochzeitsfeier in der Wohnung organisiert hatten und gerade noch auf den letzten Kollegen warteten, als er klingelte. 

 

Die Feier wurde von der Notwendigkeit überschattet, ein Polizeiprotokoll aufzusetzen, ein paar Tage später zogen wir aus und für immer fort aus der Welt der Schönen und Erfolgreichen. Immerhin tröstete ich mich, dass unsere Zahnärztin sich mit ihrer Raffgier etwas übernommen hatte und ihr nun gehöriger gerichtlicher Ärger mit dem Stiefsohn bevorstand.

 

Blick auf Jelzins Wohnung

 

An der "Rubljowka", wie der Volksmund die Trasse nennt, gab es aber noch ein ganz besonderes Haus. Kurz vor der Stadtgrenze, vielleicht zweieinhalb Kilometer von unserer zeitweisen Wohnung entfernt, stand mitten zwischen den abstoßenden Plattenbauten ein beigefarbenes Ziegelgebäude, sechs Stockwerke hoch, umgeben von einem hohen Sicherheitszaun. Hier, auf den Hügeln von Krylatskoje, befand sich der offizielle Wohnsitz von Moskaus allmächtigem Bürgermeister Juri Luschkow und — der von niemand geringerem als Staatschef Boris Jelzin. Nachbarn erzählten, dass Jelzins Frau Naina Anfang der Neunziger sogar noch selbst gelegentlich in den Lebensmittelgeschäften der Umgebung auftauchte.

 

Die Politiker-Elite hatte sich natürlich mit den Jahren selbst noble Dienst-Villen zugeschanzt und Landsitze verschafft. Offiziell beherbergte der beige Block weiter die Wohnungen einiger der wichtigsten Politiker des Landes. Vor unserer Hochzeit hatten wir in einem benachbarten Haus eine Wohnung für die deutschen Gäste angemietet. Sie glauben mir bis heute nicht, dass sie inmitten der Betonwüste aus dem Küchenfenster direkt auf Jelzins Wohnung blickten. Dass sie an einem Ort einquartiert waren, der nicht einfach "prestischny", sondern "super-prestischny" war.

 

 

Moskau Zuckerbäckerhochhaus Barrikadnaja
Wohnungen in den Zuckerbäcker-Hochhäusern sind unbezahlbar

Gelegentlich ließ sogar ich mich vom vermeintlichen Prestige mancher Moskauer Adressen blenden. Stalins Zuckerbäcker-Hochhäuser erschienen mir lange als die womöglich beste Adresse der Hauptstadt. Eine Wohnung hoch über der Stadt musste ein Traum sein, dachte ich.

 

Dann erfuhr ich, dass einer der Kollegen vom Moskauer Rundfunk sogar genau eine solche Wohnung besaß. Kommentator Alexander Scholkwer, zu Zeiten der Sowjetunion langjähriger Korrespondent in Bonn, war nach seiner Rückkehr mit einer Wohnung in einem Seitenflügel des Hotels "Ukraina" belohnt worden, direkt an der Prachtstraße Kutusow-Prospekt.   

 

Mir blieb vor Neid der Mund offen stehen, doch Scholkwer winkte mit einer geringschätzigen Handbewegung ab. "Es ist die Hölle", sagte er und berichtete von dem dröhnenden Verkehr, der sich Tag und Nacht an seiner Wohnung vorbei wälzte und ein normales Leben unmöglich machte. Scholkwers bescheidenes Nachwende-Gehalt reichte nämlich nicht für den Einbau schallisolierender Fenster.


Mehr skurrile Erlebnisse aus einer aufregenden Zeit in Russland sind hier nachzulesen:


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