Blitzkarriere ohne Diplom - Moskau in Zeiten der Wirren

Russisches Diplom
Garantiert echtes Hochschuldiplom

Manche im Westen und in Russland verklären mittlerweile die chaotischen 1990er Jahre. Die Umbruchzeit machte die meisten Menschen bettelarm, einige aber steinreich. Und sie machte Laufbahnen möglich, die es heute wohl kaum noch geben könnte.

 

Moskau (März 1996). Einige Liter Alkohol waren schon geflossen, als einer von Katjas Geburtstagsgästen einen neuen Zeitvertreib vorschlug. Der Reihe nach sprachen die Gäste jeweils einen schönen Trinkspruch auf ihren linken Nachbarn aus. Rechts von mir saß Wladimir, in einem früheren Leben Physiker, der sich zum Jungunternehmer gemausert hatte.

 

"Früher gab es in meinem Leben einen Deutschen, den ich mehr als alle anderen geschätzt habe, und zwar Bismarck", begann er seine kleine, besonders charmante Rede. "Das war, bevor ich Dich kennengelernt habe." Am selben Abend machte er mir gleich noch ein Angebot, das mir eine "Karriere" in Überschallgeschwindigeit beschert hätte, wenn ich denn zugesagt hätte.


Wladimir war nämlich Universitäts-Rektor. Nicht von irgendeiner Universität, sondern von seiner eigenen. Und er brauchte dringend Verstärkung für die Hochschule, die er registriert hatte.

 

Mitte der Neunziger Jahre gab es in Russland kaum ein begehrteres Papier als ein Wirtschaftsdiplom. Es bestand ein riesiges Defizit an Betriebswirten und Managern, die wenigstens ein wenig von den Gesetzen des Marktes verstanden. Zu kommunistischen Zeiten wurden die besten Abiturienten Ingenieure, Ökonomie galt als uninteressantes Fach für weltfremde Theoretiker und zukünftige Parteikader. 

 

Absolventen sogar bei der Zentralbank

 

Weil die staatlichen Universitäten weder den Bedarf der Wirtschaft nach Fachleuten decken konnten noch dem Ansturm der Studienbewerber gewachsen waren, schossen private Hochschulen, Akademien und Institute wie Pilze aus dem Boden. Einige versuchten, ein gewisses Niveau zu halten. Andere bemühten sich gar nicht erst um eine staatliche Akkreditierung. Ohnehin behielt während der chaotischen Reformjahre kaum noch eine Behörde einen Überblick über all die neuen Privathochschulen.

 

Wladimirs "Geisteswissenschaftliche Universität", gegründet als gemeinnütziger Verein, betrieb ihre Geschäfte besonders dreist. Sie bestand nämlich nur auf dem Papier. Aber es gab trotzdem eine ganze Reihe von Studentinnen und Studenten, die sogar Gebühren für ihre nicht stattfindende Ausbildung zahlten. Sie erhielten als Gegenwert Studentenausweise, Studienbescheinigungen - und Diplome. Bedarf an solchen Dokumenten gab es jede Menge: Sei es, um beim Vorstellungsgespräch ein nicht vorhandenes Studium vorzutäuschen, durch die Immatrikulation der Einberufung zur Armee zu entgehen, oder auch nur, um als Student vergünstigt die Metro zu nutzen. Freunde wurden umsonst eingeschrieben, und zwar für jedes Fach ihrer Wahl.

 

"Meine Absolventen arbeiten sogar in der Zentralbank", sagte der Rektor voller Stolz. Es schien, als wunderte er sich selbst ein wenig darüber. Mir grauste es beim Gedanken an die Folgen, die die Einstellungen derart qualifizierter Kräfte noch für das Land haben könnten. Aber Wladimir hatte auch für mich einen Vorschlag: "Sag, willst Du nicht Dekan meiner Wirtschaftsfakultät werden?" fragte er unvermittelt. "Du hast so ein ehrliches Gesicht, das kann man gar nicht nachmachen." 

Dekan einer Hochschule. Eigentlich kein schlechter Vorschlag für einen 21-Jährigen im Grundstudium. Offensichtlich war der Rektor es leid, ständig alle Unterschriften selbst zu fälschen, die der Professoren und ihrer Sekretärinnen, und die des wissenschaftlichen Beirats noch dazu.

 

Suche nach Aposteln

 

Ich bin damals Student geblieben und nicht gleich Professor geworden. Die ganze Sache hätte schließlich auch schlecht ausgehen können. Schon einige Jahre später wurde der Diplomhandel in Russland so sehr erschwert, dass sich das Geschäft für Wladimir nicht mehr lohnte.

Da hatte er schon eine neue Idee. Als ich ihn zum letzten Mal traf, sprach er davon, dass er eine eigene Religionsgemeinschaft gründen würde. Und dafür suchte er in seinem Freundeskreis schon einmal verstärkt nach künftigen Aposteln.

(kp, aufgeschrieben 2008)

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