Die letzten Tage von Arzach

Wie die armenische Enklave Bergkarabach unterging

Foto: European Union/Christophe Licoppe
Foto: European Union/Christophe Licoppe

Die 30-jährige Geschichte der Republik Arzach ist beendet, die über 1.700-jährige Geschichte der christlichen Armenier in der Region Berg-Karabach wahrscheinlich auch. Letztlich reichten den Truppen des aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Aliyev gerade einmal rund 24 Stunden, um die über Monate belagerte und ausgehungerte Region sturmreif zu schießen und nun wohl vollständig unter Kontrolle zu bringen. Die einen Tag nach dem Angriff unter russischer Vermittlung ausgehandelte Waffenruhe

kommt einer Kapitulation der Karabach-Armenier und ihres international nicht anerkannten Staates gleich. Für einen Augenblick ließ der Konflikt im Südkaukasus sogar den Krieg in der Ukraine in den Hintergrund rücken. Dabei hängen die Ereignisse eng zusammen. Und die Propaganda-Maschinerien laufen längst auf Hochtouren, um die Deutungshoheit in dem Konflikt zu erlangen.

"Russland kommt seiner Rolle als Schutzmacht Armeniens nicht nach, andere Staaten bewirken mehr im Konflikt mit Aserbaidschan", war erst vor einigen Tagen bei tagesschau.de zu lesen. Die Ereignisse sind - so das Medienecho in Deutschland - wahlweise Ausdruck dafür, wie schwach und einflusslos Moskau mittlerweile im Südkaukasus ist, oder dafür, wie rücksichtslos es eigene Interessen gegen die dortigen Länder durchsetze. In jedem Fall mache das Geschehen deutlich, als wie fatal sich die Abhängigkeit Armeniens von Russland nun erweise, bediente der Politologe Stefan Meister im "Stern" zuverlässig das Narrativ von EU und US-Administration: "Dass dieser außenpolitische Fokus auf Russland ein Fehler ist, hätten die armenischen Eliten früher sehen müssen", behauptete er.

Glaubt man dieser Erzählung, dann hätte es Armenien und Berg-Karabach glänzend gehen können, wäre die armenische Führung nur früher politisch Richtung Westen umgeschwenkt. Doch diese These ist schon allein deswegen vollkommen unplausibel, weil das Todesurteil über die armenische Enklave von niemand geringerem als von der Europäischen Kommission ausgesprochen worden war spätestens im Sommer 2022: Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte sich dem aserbaidschanischen Staatschef Aliyev damals geradezu um den Hals geworfen und eine neue Energiepartnerschaft mit der öl- und gasreichen Kaukasusrepublik ausgerufen. Aserbaidschan war für die Strategen in Brüssel unverzichtbar, um den politisch gewollten Import-Boykott gegen russische Rohstoffe umsetzen zu können. "Sie waren schon immer zuverlässig. Sie sind nicht nur für unsere Versorgungssicherheit ein wichtiger Partner, sondern auch für unser Bemühen, klimaneutral zu werden.", lobte von der Leyen in Baku den Langzeitherrscher, der die Macht bereits von seinem Vater geerbt hatte. Spätestens in diesem Moment dürfte Aliyev verstanden haben, dass er sich die totale Kontrolle über das abtrünnige Gebiet ohne ernsthafte Konsequenzen zurückholen könnte.

 

Nachbarn in innigem Hass verbunden

Wie es nach der Kapitulation der Karabach-Armenier weitergehen würde (die just auf den armenischen Unabhängigkeitstag fiel), war zunächst unklar. "Ein friedliches Miteinander der Karabacher im aserbaidschanischen Staat ist kaum vorstellbar", urteilte die Neue Zürcher Zeitung in einer lesenswerten Analyse. Eine "ethnische Säuberung" erscheint wahrscheinlich.

Möglicherweise könnte Aliyev mit dem nun erzielten Triumph sogar auf den Geschmack gekommen sein und das letzte territoriale Problem lösen wollen: Eine Landverbindung zu der zwischen Armenien und dem Iran eingeklemmten aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan zu schaffen. "Aliyevs Manöver sind noch nicht beendet", orakelte auch das Moskauer Blatt "Moskowski Komsomolez" (Russisch). Nichts weniger als die Umwandlung Armeniens in einen Vasallenstaat sei das wahre Ziel von Aserbaidschan.

Der Hass zwischen Aserbaidschanern und Armeniern hat eine lange Vorgeschichte (gut aufgearbeitet bei "Diletant.Media", Russisch) . In der traditionell multiethnischen und multireligiösen Kaukasus-Region waren auf den Trümmern des Russischen Zarenreiches zwei kurzlebige Republiken der Armenier und Aserbaidschaner entstanden, zwischen denen ab 1918 im Streit um den Grenzverlauf ein blutiger Konflikt ausbrach. Eine Serie von Massakern und ethnischen Säuberungen endete erst mit dem Einmarsch sowjetrussischer Truppen. Unter dem damals für Nationalitätenfragen zuständigen Sowjet-Kommissar Josef Stalin wurde die mehrheitlich von Armeniern besiedelte Enklave Bergkarabach (russische Bezeichnung: Nagorny Karabach) als Autonomes Gebiet Teil Aserbaidschans. Der alte Konflikt zwischen beiden Völkern brach während Michail Gorbatschows Reformpolitik mit voller Macht wieder aus. Die sowjetische Zentralregierung in Moskau zeigte sich unfähig, die Gewaltspirale zu stoppen, in beiden Republiken gewannen radikale Nationalisten die Oberhand und trieben die jeweiligen Minderheiten in die Flucht. Allein beim antiarmenischen Pogrom von Sumgait kamen 1988 vermutlich Hunderte ums Leben.

Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 erklärte sich auch Bergkarabach für unabhängig, bald danach brach dann ein offener Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus, der für die aserbaidschanische Führung zum Fiasko wurde. Mit russischer Unterstützung gelang es den Armeniern nicht nur, fast ganz Bergkarabach zu erobern, sondern auch eine Landverbindung zum armenischen Mutterland - den sogenannten Latschin-Korridor - und große Territorien ringsum unter ihre Kontrolle zu bringen, aus denen die aserbaidschanische Bevölkerung vertrieben wurde. Beide Seiten begingen schwerste Kriegsverbrechen.

Nach 1994 nahm die Zahl der Kampfhandlungen ab, der Krieg wurde zum "eingefrorenen Konflikt." Zwischen beiden Ländern gab es keinerlei grenzüberschreitende Kontakte. Auch die armenisch-türkische Grenze blieb komplett geschlossen. Die Einreise nach Aserbaidschan war selbst Personen mit armenisch klingendem Nachnamen ungeachtet der Staatsangehörigkeit lange Zeit verboten (S. z.B. Bericht Kommersant von 2019, Russisch). Der Republik der Karabach-Armenier mit ihren lediglich rund 130.000 bis 140.000 Einwohnern blieb die internationale Anerkennung verwehrt, offiziell wurde sie nicht einmal von Armenien selbst als unabhängiger Staat anerkannt.

In den Folgejahren scheiterten alle Friedensinitiativen für die Region - auch daran, dass Armenien aus einer Position der vermeintlichen Stärke heraus jegliche Kompromisse bei der Rückgabe eroberter Gebiete ausschloss. Doch mit den Jahren änderte sich zunehmend das Kräfteverhältnis zwischen den beiden verfeindeten Nachbarn, ohne, dass die Armenier dies wahrhaben wollten. Während weder das wirtschaftlich angeschlagene Armenien noch die Republik der Karabach-Armenier nie richtig auf die Beine kamen, klingelten in Aserbaidschan dank des Öl- und Gaseports die Kassen. Die Anfang der 1990er-Jahre noch unterlegene Armee wurde modernisiert und hochgerüstet. 

Im zweiten Karabachkrieg 2020 eroberte Aserbaidschan schließlich Teile von Karabach zurück, unterbrach den Latschin-Korridor. Der Krieg endete mit dem Abzug der Armenier aus allen um die Enklave gelegenen, nach 1991 eroberten aserbaidschanischen Gebieten, die zuvor ebenfalls von der Republik Arzach kontrolliert worden waren. Doch schon damals war im Grunde klar, das dies lediglich ein Zwischenschritt für Aliyev war. Seit Dezember 2022 blockierten aserbaidschanische Aktivisten und bewaffnete Kräfte die einzige verbliebene Verbindungsstraße nach Bergkarabach. Die Blockade führte zu einem katastrophalen Lebensmitteldefizit, es gab kaum noch Strom und Benzin. Bewohner der Enklave berichteten verzweifelt, wie sie sich nachts vor den Bäckereien anstellten in der Hoffnung, irgendwann ein Brot kaufen zu können. Im August gab es Meldungen über den ersten Hungertoten in der Karabach-Hauptstadt Stepanakert (Bericht z.B. Meduza, Russisch). Den in der Region stationierten russischen Friedenstruppen fehlte der Wille, die Blockade zu beenden. Und auch in den meisten westlichen Hauptstädten sorgte reagierten die Mächtigen höchstens mit einem Achselzucken auf das Vorgehen ihres neuen Energie-Premium-Partners.

 

Aliyev bekommt alles, die Armenier nichts

In den vergangenen Jahren haben sich Armenien und die Karabach-Armenier unter enormem Zugzwang immer weiter in eine Sackgasse manövriert. Paschinjans Flirt mit dem Westen und einige demonstrativ gegen Russland gerichtete Schritte wie die angestoßene Ratifizierung Vertrags über den Internationalen Strafgerichtshof (der Russlands Präsidenten Putin bekanntlich per Haftbefehl sucht) haben sich für ihn nicht ausgezahlt, und lediglich in Moskau Wut ausgelöst. Armenien sei das "trojanische Pferd" in dem von Russland angeführten Militärbündnis OVKS, schimpfte schon Anfang September der prorussische ukrainische Militärblogger Juri Podoljaka. Just zum Zeitpunkt des aserbaidschanischen Blitzkriegs gegen Karabach im September hatte ein amerikanisch-armenisches Militärmanöver begonnen. Die drohende Massenvertreibung der Menschen in Bergkarabach wird die neue Waffenbrüderschaft nicht verhindern. 


Russlands politishe Führung und die Staatsmedien beeilten sich daher auch, den Untergang von Bergkarabach dem ungeliebten armenischen Premierminister in die Schuhe zu schieben. Paschinjan habe Karabach selbst 2022 als Teil Aserbaidschans anerkannt und nach Beginn der aserbaidschnischen Angriffe auf die Armenier in der Enklave demonstrativ erklärt, Armenien sei nicht Konfliktpartei. Die politische Führung im armenischen Eriwan habe Karabach schon längst geopfert, lautet der indirekte Vorwurf aus Moskau. In Armenien und in Karabach herrscht grßoe Wut über Paschinjan. Ob der Zorn der Straße den glücklosen Regierungschef hinfortfegen wird, ist fraglich. Wur herrscht aber auch über Moskau, weil manche Armenier den Russen vorwerfen, sie hätten Karabach preisgegeben, um Paschinjan für seinen Westkurs abzustrafen.

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit: Denn richtig ist auch: Aserbaidschan hat alles getan, um sich Russlands wohlwollende Neutralität in dem Konflikt zu wahren. Zwar blieb Aliyev immer auf Distanz zu den von Russland angeschobenen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsunion und zur OVKS und suchte stattdessen außerpolitisch vor allem die Nähe zur Türkei, doch dabei unterließ man in Baku dennoch seit Jahren alle Handlungen, die Moskau als Provokation hätte verstehen können. Als Transitland für den Handel zwischen Russland, Iran und der arabischen Welt wuchs die Bedeutung von Aserbaidschan zudem deutlich an. Eine allzu einseitige Stellungnahme verbot sich für Moskau noch aus anderem Grund: In Russland leben laut offiziellen Zahlen über 900.000 ethnische Armenier und fast 450.000 ethnische Aserbaidschaner. Dass die ihren Konflikt auf russischem Gebiet austragen, konnte bislang immer weitgehend vermieden werden.

Während also die Spannungen zwischen Russland und seinem Partner Armenien zunahmen, gab es zugleich für Russland überhaupt keinen Grund, sich aktiv gegen Aserbaidschan zu stellen. Im Zusammenspiel mit der neuen Rohstoff-Abhängigkeit der Westeuropäer, die den Armeniern über Lippenbekenntnisse hinaus so oder so nicht geholfen hätten, war der Karabach-Konflikt damit praktisch entschieden.


Die zynische geopolitische Pokerrunde der Mächtigen um ein wunderschönes Stück Bergland im Kaukasus werden Zehntausende ethnische Armenier teuer bezahlen. Momentan wäre es wahrscheinlich schon ein Erfolg der Diplomatie, wenn blutige Exzesse gegen die Besiegten ausbleiben und den Armeniern eine unbeschadete Evakuierung ins armenische Kernland gestattet wird. Und auch für alle, die sich im Ukraine-Krieg für eine überfällige diplomatische Lösung starkmachen, verheißen die Ereignisse nichts Gutes. Aliyevs Erfolg dürften all denen als Bestätigung dienen, die noch immer glauben, auch in der Ukraine könne es eine Lösung auf dem Schlachtfeld geben - selbst, wenn man darauf 30 Jahre warten muss.

(Aufgeschrieben: 21.9.2023)


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