"Alle Flüsse, die aus den Ural-Felsen in Richtung der Mittagssonne fließen, führen nach Sibirien. Die in Richtung Mitternacht - nach Russland. Durch die Uralberge hindurch kommt kein einziger Fluss, außer der Tschussowaja."
Georg Wilhelm Henning (1676-1750), deutsch-russischer Militär und Bergbauingenieur
Unter Kanuten und Floßfahrern genießt die 592 Kilometer lange Tschussowaja seit Jahrzehnten Kultustatus. Kaum ein anderer der vielen malerischen Flüsse im Ural wurde in so vielen Büchern und Liedern besungen. Lagerfeuerromantik und eine Vielzahl von markanten Felsen an den Ufern ziehen bis heute Aktivurlauber von nah und fern an. Bis zum Bau der Eisenbahnlinien im 19. Jahrhundert war die Tschussowaja ein wichtiger Verkehrsweg, um Waren aus dem europäischen in den asiatischen Teil des Zarenreichs zu befördern. Einige der verschlafenen Siedlungen an ihren Ufern gehen noch auf die Zeit der Kaufleute aus der Stroganow-Familie und den frühen Industriellen der Demidow-Dynastie zurück, denen die riesigen Ländereien einst übereignet worden waren. Einige Dörfer entlang der Tschussowaja sind mit der Eisenbahn erreichbar. Dazwischen gibt es aber viel unberührte Natur.
Die Tschussowaja entspringt im äußersten Norden des Verwaltungsgebiets Tscheljabinsk, fließt durch den Südwesten des Gebiets Swerdlowsk und mündet in der Region Perm östlich der gleichnamigen Gebietshauptstadt in die Kama, den größten Nebenfluss der Wolga. Die Paddel-Saison in der Region beginnt Ende April, bis dahin ist der Fluss gewöhnlich zugefroren. Im Sommer sinkt der Wasserstand oft so stark, dass selbst kleine Schlauchboote gelegentlich auf Grund laufen. Dann kann ein Erwachsener auch praktisch an jeder Stelle des Flusses im Wasser stehen. Im Vergleich zu anderen Flüssen im Ural ist die Tschussowaja auch für absolute Anfänger geeignet, die Strömung ist mit Ausnahme weniger Stellen recht schwach, so dass kräftig gerudert werden muss.
Die Landschaft entlang der Tschussowaja ist relativ vielseitig.
Typisch sind die steilen Felsen, die abwechselnd am linken und rechten Ufer auftauchen. Alle haben ihren eigenen Namen, wobei die Menschen im Ural von Steinen (kamen' / камень)
sprechen: Es gibt den Satans-Stein, den Hohen Stein, den Sibirschen Stein und noch unzählige weitere. Zu vielen Felsen können Ortskundige Legenden erzählen.
Am oberen Flusslauf - von Kourowka über Kamenka bis Staroutkinsk gibt es noch alle fünf bis zehn Kilometer eine kleine, aus der Zeit gefallene Siedlung am Ufer. Weiter nordöstlich,
jenseits der Siedlungen Ust-Utka und Tschussowoje wird die Gegend noch menschenleerer. In den Wäldern dort leben noch Bären, Wölfe und Elche. Gewöhnlich bekommen Paddeltouristen sie
jedoch nicht zu sehen. Anders ist das mit den Bibern: Zumindest die von Nagern umgelegten Bäume am Ufer fallen regelmäßig ins Auge.
Flussabwärts jenseits der Gebietsgrenze zur Region Perm ist die Gegend streckenweise praktisch unbewohnt, die wenigen Siedlungen sterben langsam aus. So hatte das entlegene Dorf Ust-Kojwa im Jahr 2010 nur noch ganze 18 Einwohner. An den Ufern gibt es einige Zeltplätze mit minimaler Infrastruktur (Plumpsklo), die meisten Kanuten und Floßfahrer campen allerdings dort, wo es ihnen gerade gut gefällt.
(Blau markiert ist der für Aktiv-Touren interessante Teil des Flusses. Alle Fotos stammen aus dem oberen Flusslauf zwischen Sloboda und Staroutkinsk.)
Viele Russen sind mit den eigenen Falt- oder Schlauchbooten auf dem Fluss unterwegs. Wer von weiter her anreist oder die nötige Technik nicht besitzt, kann sich an Aktivreise-Veranstalter in der Region wenden. Geführte Touren, bei denen Anfahrt an den Fluss und Verpflegung organisiert, Boote, Zelte und sogar Schlafsäcke gestellt werden, bieten Reisebüros unter anderem in Perm, Jekaterinburg und Nischni Tagil. Das Angebot ist groß, es reicht vom Tagesausflug bis zur zwölftägigen Tour. Die Preise sind niedrig, der Komfort eher rustikal. Wir waren 2016 mit zwei aufblasbaren Katamarenen und der Firma "Aktiv Ural" aus Perwouralsk unterwegs, die einen recht gut organisierten Eindruck hinterließ.
Wie eine begleitete Outdoor-Tour auf dem Fluss abläuft, habe ich in unserem Reisebericht "Von der Wolga zum
Ural" beschrieben.
Die große Beliebtheit der Tschussowaja führt speziell im Juli zu einem an manchen Stellen unangenehm intensiven Betrieb. Auch sind auf dem Fluss einige nicht mehr nüchterne
junge Hobby-Skipper unterwegs. Manche der unorganisierten Touristen fallen auch durch einen extrem ruppigen Umgang mit der Umwelt auf: Auf unserer Tour waren einige Lagerplätze ziemlich
vermüllt, einmal passierten wir sogar eine Paddelgruppe, die sich mitten im Naturschutzgebiet das Feuerholz für das Abendessen mit der Motorsäge beschaffte. Unserem professionellen Begleiter, der
äußerst penibel auf korrekte Müllentsorgung, Brandschutz und ähnliche Dinge achtete, standen die Haare zu Berge.