"Am fernen Saum der Erde sind wir angelangt, im Skythenland, in menschenöder Wüstenei.
Dir ziemt, Hephästos, eingedenk zu sein des Amts, das dir der Vater zugeteilt, den Frevler hier
Hoch anzuketten an die steile Felsenwand in diamant'ner Fesseln unlösbarem Netz."
Aischylos (525-456 v. Chr.) griechischer Dichter in "Der gefesselte Prometheus", zitiert nach "Projekt Gutenberg"
Nur eine kurze Busfahrt vom quirligen Stadtzentrum von Sotschi entfernt können Wanderer einen echten Canyon erwandern. Die Agura-Schlucht beeindruckt durch eine Kaskade von Wasserfällen des Agura-Flüsschens, subtropische kolchische Wälder und steile Felswände, die auf beiden Seiten steil in den Himmel hinaufragen. Wegen der Nähe zur Stadt kommen viele Besucher zum Wandern in das kühle schattige Tal, in dem die ersten Wege schon vor über 100 Jahren von der Vereinigung der Kaukasus-Bergwanderer angelegt wurden. Wer den steilen Aufstieg nicht scheut, hat von den knapp 400 Meter hohen Adlerfelsen oberhalb des Canyons einen phantastischen Fernblick auf die über 3.000 Meter hohen Gipfel des westlichen Kaukasus. Der Agura-Canyon ist Teil des Sotschi-Nationalparks und eng verbunden mit der Prometheus-Geschichte aus der antiken griechischen Mythologie.
In Sotschi bieten nahezu alle Reisebüros auch Ausflüge in den Canyon an. Allerdings begnügen sich einige dieser Touren wohl damit, die Urlauber im Schnelldurchgang zu den beiden untersten Wasserfällen und wieder zurück zum Bus zu begleiten. Bis zu den spektakulärsten Aussichtspunkten gelangen diese organisierten Gruppen gar nicht. Allerdings sind Felsen und Schlucht auch mit dem Stadtbus zu erreichen, was in diesem Fall diese bessere Wahl zu sein scheint. Insbesondere ist eine Wanderung möglich, deren Route am monumentalen Bäderpalast in Mazesta (Matsesta) beginnt, über die Adlerfelsen hinab zum Zusammenfluss von Agura und ihrem Nebenfluss Agurtschik und von dort an talwärts an den Wasserfällen vorbei führt.
Von den leicht faulig riechenden Schwefelwasser-Quellen von Mazesta führt ein leider anfangs recht stark befahrerner Weg an verschiedenen populären Picknick-Plätzen vorbei, erst ab dem Parkplatz, andem auch die Entrittskarten für den Nationalpark verkauft werden, sind die Wanderer unter sich.
Der Aufstieg lohnt, denn die Aussicht auf den Canyon, die Kaukasus-Gebirgszüge und den Achun, den Hausberg von Sotschi auf der anderen Seite des Tals, machen den Gipfel der Felswand zu einem
beliebten Ausflugsziel. Die Prometheus-Statue ist von Besuchern umringt.
Hier, im fernen und unwirtlichen Land der Skythen, ließ Göttervater Zeus der Legende nach einst den Titanen an die Berge des Kaukasus ketten. Eine qualvolle
Strafe dafür, dass er den Menschen verbotenerweise das Geheimnis des Feuers verraten hatte: Jeden Tag kam ein Adler und riss ein Stück aus der Leber des angeketteten Unsterblichen heraus.
Die Adlerfelsen am Stadtrand von Sotschi sind allerdings nicht der einzige Ort im Kaukasus, der den Anspruch erhebt, Schauplatz des griechischen Dramas zu sein. In Nordossetien gilt der
Kasbek-Gipfel als Schauplatz des Geschehens.
Von den Aussichtspunkten oberhalb der steilen Felskante führt ein steiler Weg hinunter zum Fluss. Wer genug Zeit hat, kann an einer Weggabelung am Zusammenfluss von Agura und Agurtschik auch noch
den Aufstieg zum Achun antreten, statt zu den Wasserfällen weiterzuwandern.
Der Weg führt zunächst an drei größeren Wasserfällen vorbei: Dem Oberen, dem Mittleren und dem Unteren Agura-Fall mit einer Höhe von jeweils 18 bis 23 Metern. Besonders
eindrucksvoll stürzen die Wassermassen erwartungsgemäß im Frühjahr ins Tal, wenn im Kaukasus die große Schneeschmelze beginnt. Während der Sommermonate versiegen die Wasserfälle hingegen
nach Aussage einer Nationalpark-Rangerin manchmal komplett.
Weiter flussabwärts gibt es keine so hohen Wasserfälle mehr, aber noch eine ganze Reihe wild-romantischer Stromschnellen. Ein beliebtes Fotomotiv ist ein kleiner See, der sich in
einer steinernen Senke bildet, an der das Wasser weitere drei Meter in die Tiefe stürzt - "Teufels Taufbecken" wird dieser Ort genannt.
So sieht unser Vorschlag für eine Wanderung von Matsesta zu den Felsen und den Wasserfällen und zurück an die Schwarzmeerküste auf der Landkarte aus: Die gesamte Strecke ist gut sieben Kilometer lang.