"Die leuchtendsten Erinnerungen meines Lebens stammen aus den Chibinen."
Alexander Fersman (1883-1945), russisch-sowjetischer Mineraloge, Entdecker der Apatit-Vorkommen bei Kirowsk
Hoch im Norden auf der Halbinsel Kola, jenseits des Polarkreises, befindet sich - abgesehen von Ural und Kaukasus - das einzige echte Gebirge im europäischen Teil von Russland. Die Chibinen, deren karge Gipfel eine Höhe von maximal 1.200 Metern erreichen, sind eine größtenteils menschenleere Wildnis, die seit Jahrzehnten Abenteurer und Wanderer anzieht. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kamen hier allenfalls Rentierzüchter vom Volk der Samen mit ihren Herden vorbei. Als Geologen riesige Apatit-Vorkommen in der Region entdeckten, entstand am Rand der Berge die Stadt Kirowsk. Seit einigen Jahren setzt die Region nicht mehr allein auf Bergbau, sondern auch auf Skitourismus. Und im Sommer lockt die wilde Umgebung zu kurzen oder langen Trecking-Touren.
Kirowsk liegt in einem Talkessel am Fuße des Chibinen-Gebirges inmitten einer beeindruckenden Landschaft. Leider ist die Stadt, die nach ihrer Gründung zunächst Chibinogorsk hieß und dann zu Ehren des kommunistischen Funktionärs Sergej Kirow umbenannt wurde, aber alles andere als eine Schönheit. Da es dem Unternehmen Düngemittelhersteller "Phosagro", dem alles in der Stadt zu gehören scheint, recht gut geht, fehlt aber die depressive Stimmung vieler anderer sogenannter Monostädte in der russischen Provinz.
Europas führender Hersteller von Phosphat-Dünger hat allerdings auch die Umgebung von Kirowsk schon erheblich verändert. So ist einer der Hausberge nördlich der Stadt an der
Arbeitersiedlung Kukiswumtschorr schon zu großen Teilen abgetragen. Auf den staubigen Straßen um Kirowsk herum sind viele Lastwagen unterwegs und wirbeln gehörige Mengen Staub auf.
Wanderer sollten also zusehen, dass sie so schnell wie möglich in die Wildnis kommen.
Wie es im Winter in der Gegend zugeht, wenn Skifahrer sich auf die Pisten stürzen, während am Himmel grandiose Polarlichter flackern - das wissen wir nicht, weil wir mitten im Sommer in der Stadt waren. Obwohl Kirowsk nördlich des Polarkreises liegt, ist die Mitternachtssonne hier nie zu sehen, weil die Berge im Norden
stören.
Der Grund, im Sommer nach Kirowsk zu reisen, ist natürlich die Natur in der Umgebung. Für echte Wildnis-Touren benötigt man einen erfahrenen Guide. Auch, wenn es auf unseren Fotos nicht so aussieht - das Wetter hier kann auch im Hochsommer extrem ungemütlich werden, und bei plötzlichem Nebel verliert man in dem unwegsamen Terrain schnell die Orientierung. Einfach zu bewerkstelligen ist hingegen eine Tageswanderung zum Maly-Wudjawr-See ("Die Perle der Chibinen") und hinauf zum Fuß des Tachtarwumtschorr-Gebirgskamms. Auch hier sind Einsamkeit und grandiose Ausblicke garantiert. Die Namen der Berge und Flüsse in den Chibinen stammen alle aus der Sprache der Samen, allerdings leben in der Region keine Vertreter des kleinen Volkes mehr. Ein zweites mögliches Ausflugsziel sind die blauen Seen südöstlich von Kirowsk (Galubyje osera), die wir aber weniger spektakulär fanden.
Auf Initiative des sowjetischen Botanikers Nikolai Awrorin entstand einige Kilometer nordwestlich von Kirowsk bereits Anfang der 1930-er Jahre der nördlichste Botanische Garten Russlands. Auf dem Gelände erforschten Wissenschaftler nicht nur die Flora der hiesigen Tundra. Zu Sowjetzeiten experimentierten sie auch mit Nutzpflanzen um zu testen, welche Züchtungen mit den besonderen Bedingungen im Hohen Norden - den kalten Wintern, der Polarnacht im Winter und der Mitternachtssonne im Sommer - zurechtkommen würden. Ein Gewächshaus mit tropischen Pflanzen dient wohl eher zur Unterhaltung für Schulkinder aus der Umgebung, die inmitten der Tundra sonst keine Palmen zu sehen bekommen. Das riesige Territorium des Botanischen Gartens umfasst knapp 1700 Hektar und reicht bis hoch auf die Bergspitze des Wudjawrtschorr und der Tachtarwumtschorr. Besichtungen sind im Rahmen von Führungen möglich.
Kirowsk ist eine kleine Stadt, die man komplett zu Fuß ablaufen könnte, wenn es denn hier nennenswerte Sehenswürdigkeiten geben würde. Einige Straßen im Zentrum sind während der Stalin-Zeit entstanden. Hier gibt es noch einige im typischen Stil jener Zeit erbaute Wohnhäuser und auf einer Anhöhe den Kulturpalast der Bergarbeiter. Auch eine Reihe von Cafés, Hotels und Läden befindet sich hier.
Der Bolschoi-Wudjawr-See ist von der Stadt durch ein unansehnliches Industriegebiet abgetrennt, und so richtig Lust zum Flanieren macht die Umgebung dort nicht. Ebenfalls in der Nähe des Sees liegt der halb verfallene Bahnhof von Kirowsk, den wir leider nicht selbst besucht haben, der auf Fotos aber extrem eindrucksvoll wirkt. Personenverkehr gibt es hierher nicht mehr, aber es rollen noch viele lange Güterzüge an der Stadt vorbei.
Im Gegensatz zu vielen Wildnisgebieten in Sibirien oder Russlands Pazifikregion hat das Chibinen-Gebirge einen entscheidenden Vorteil: Es ist zwar fast völlig menschenleer, aber dafür
verkehrsmäßig ziemlich gut angeschlossen. Die Stadt Kirowsk ist am leichtesten über den Bahnhof Apatity-2 an der Strecke Murmansk - St. Petersburg zu erreichen. Alle Fernverkehrszüge von und nach Murmansk stoppen hier, von St.
Petersburg dauert die Fahrt gut 20 Stunden.
Für die letzten 20 Kilometer von Apatity nach Kirowsk lohnt es sich, ein Taxi zu rufen, die nicht viel kosten. Es verkehren auch Busse und "Marschrutka"-Minibusse, aber die Haltestelle am etwas
außerhalb der Stadt Apatity gelegenen Bahnhof wird nur selten bedient.
Auf unserer Nordrussland-Reise 2018 sind wir für einige Nächte im Sanatorium "Tirwas" des Phosagro-Konzerns abgestiegen, das damals gerade grundlegend modernisiert wurde und
auch bei den gängigen Buchungsportalen vertreten ist. Es liegt außerhalb der Stadt neben dem Botanischen Garten, was aber eher ein Vorteil ist.
Wer hier nicht nur Wandern oder Ski-Fahren will, kann auch im hoteleigenen Schwimmbad baden gehen - mit Panoramablick auf die Tundra. Wer das Schwimmbecken benutzen will, benötigt in guter
sowjetischer Tradition allerdings ein ärztliches Attest. Ausländer kommen trotzdem ins Wasser, sie müssen sich nur von einem der Sanatoriumsärzte untersuchen lassen (dauerte 30 Sekunden).
In dem Sanatorium herrscht eine recht eigenartige Atmosphäre, so dass das Tirvas es auf unsere Liste der ungewöhnlichsten
Russland-Unterkünfte geschafft hat. Tagsüber pendelt ein kostenloser Bus ins Stadtzentrum und zurück. Zum Laufen ist die Strecke zu weit und wegen der vielen staubigen
Lastwagen auch nicht empfehlenswert.