"Die Krim ist ein Orden auf der Brust des Planeten Erde."

 

Pablo Neruda (1904-1973), chilenischer Diplomat, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger

 

 

Paradiesischer Zankapfel - Wem gehört die Krim?

Krim-Küstengebirge bei Alupka
An der Südküste der Krim bei Alupka

"Krym nash" - "Die Krim gehört uns"Überall war der Schlachtruf zu hören und zu lesen, als Russlands "Patrioten" 2014 die Einverleibung der Schwarzmeer-Halbinsel feierten. Abhängig von der Antwort auf die Frage "Wem gehört die Krim?" entschieden  in den Jahren danach nicht wenige Ukrainer, wer als Freund und wer als Feind zu gelten hatte. Der verheerende Konflikt um die Zukunft der Ukraine begann - anders als verschiedentlich suggeriert - lange vor Wladimir Putins Griff nach der Krim. Aber danach war die Auseinandersetzung so weit eskaliert, dass eine vernünftige Auflösung kaum noch möglich erschien. Mittlerweile hat die Führung in Kiew die militärische Rückeroberung zum Ziel erklärt - mit Rückendeckung aus dem Westen.

Bedauerlicherweise kenne ich die Krim persönlich nicht wirklich gut. Nur zweimal war ich dort, beide Reisen fanden schon im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende statt - also noch zu "ukrainischen Zeiten". Damals blickten wir hinauf zu den Minaretten im Palast der Tataren-Khane in Bachtschissarai, wanderten durch die Berge zu den Ruinen der Geisterstadt Tschufut-Kale und bestaunten den Verhandlungstisch im Livadia-Palast bei Jalta, wo Stalin einst mit Churchill und Roosevelt die Zukunft Europas aushandelte. Wir machten in Sewastopol heimlich Fotos von den Kriegsschiffen der Schwarzmeeflotte, genossen die Herbstsonne am Kieselstrand von Koktebel, dem einstigen Mekka der sowjetischen Hippie-Subkultur. Wir sahen vom märchenhaften Schwalbennest-Schlösschen auf das hellblaue Meer hinab, wo Dutzende Delfine ihre Bahnen zogen und erlagen dem morbiden Charme der 2.500 Jahre alten Hafenstadt Feodossija mit ihrer fast surrealen Mischung aus uralten Kirchen, rostigen Hafenkränen und Rummelattraktionen. 

Wer in jenen Jahren von Russland auf die ukrainische Krim reiste, fühlte sich nicht wie im Ausland, eher, wie mit einer Zeitmaschine um zehn Jahre in die Vergangenheit zurückgeworfen: Das begann schon bei den Uniformierten, die bei der Einreise in die Ukraine hartnäckig ein Bakschisch forderten. Dazu kamen das Sowjet-Ambiente in den Cafés, rationiertes Warmwasser im Hotel, die alten, vor sich hin gammelnden Sanatorien, die untenrum weiß gestrichenen Platanen am Straßenrand. Die liebste Ferienküste der Werktätigen war nach 70 Jahren Sozialismus und gut 15 Jahren Wildwest-Kapitalismus jedenfalls in keinem guten Zustand. Und trotzdem war ich fasziniert von diesem Flecken Erde mit seinen märchenhaften Landschaften und all den Hinterlassenschaften der unterschiedlichsten Völker und Kulturen. Carl Zuckmayers Metapher vom Rhein als der "Völkermühle Europas" hätte genauso gut zur Krim gepasst.

 

Immer schon russisch?

Dass die Krim nach dem Zerfall der Sowjetunion Teil der unabhängigen Ukraine wurde, hatte auch Russland mehrfach verbindlich anerkannt. Dennoch wurde die Übernahme der Region 2014 von einer großen Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht als völkerrechtswidrige Annexion gewertet, sondern als eine Art Wiedervereinigung. Und auch im Westen teilen manche die Überzeugung, eigentlich sei die Halbinsel ja doch "schon immer russisch" gewesen. Russlands Präsident Putin hat die Bedeutung der Krim für sein Land in den vergangenen Jahren mehrfach geradezu mystisch überhöht. "Heilig wie der Tempelberg in Jerusalem für Muslime und Juden" sei die Krim für Russland, erklärte er in einer Ansprache (Rede vom Dezember 2014, Russisch). Daraus leitete er einen ewigen Anspruch auf das Land ab.

Dabei hatte die Krim im Laufe ihrer Jahrtausende zurückreichenden Geschichte so viele, höchst unterschiedliche Herren: Griechen, Skythen, Chasaren, Byzantiner, Krim-Goten, Genueser, Tataren, Osmanen... Offizieller Bestandteil der Russischen Kaiserreichs wurde die Halbinsel erst 1783 mit einem Manifest von Katharina der Großen nach dem sechsten Russisch-Türkischen Krieg. Wenig später begann in der neu gegründeten Stadt Sewastopol der Aufbau der Schwarzmeerflotte. Eine russische Bevölkerungsmehrheit gab es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem Stalin das gesamte Volk der Krimtataren, Deutsche, Griechen und andere ethnische Minderheiten in asiatische Landesteile der UdSSR hatte deportieren lassen. Gemessen an der gesamten Geschichte der Halbinsel ist die russische Ära eher ein Wimpernschlag.

Das gilt natürlich erst recht für die Jahrzehnte ab 1954, als KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow die Krim kurzerhand von der Russischen an die Ukrainische Sowjetrepublik übergab. Versuche aus jüngster Zeit, die ukrainische Identität der Krim zu unterstreichen, nahmen zuweilen recht skurrile Formen an - etwa bei dem Versuch, den berühmten armenisch-russischen Maler Iwan Aiwasowski (1817-1900) zum ukrainischen Künstler umzudeuten, weil er fast sein ganzes Leben auf der (damals russischen) Krim verbracht hatte (Bericht, z.B. bei BR24).

Beim ukrainischen Unabhängigkeitsreferendum im Dezember 1991 hatte noch eine knappe Mehrheit der Bevölkerung (54 % auf der Krim, 57 % in Sewastopol) mit Ja gestimmt. Doch die Hoffnungen, der Zerfall des Sowjetimperiums würde die einstigen Teilrepubliken ohne Gängelung aus Moskau in eine grandiose Zukunft führen, verflogen schnell. Schon 1994 drohte ein ernster Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, als Juri Meschkow, Anführer des Wahlblocks "Russland", mit großer Mehrheit zum ersten (und letzten) Präsidenten der autonomen Krim-Republik gewählt wurde. Er hatte unter anderem angekündigt, den russischen Rubel als Zahlungsmittel auf der Krim einzuführen, und dafür zu sorgen, dass alle Einwohner die russische Staatsbürgerschaft erhalten könnten. Als auf Betreiben der Zentralregierung in Kiew ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde, hatte Meschkow von all seinen vollmundigen Versprechen lediglich den Wechsel der Halbinsel in die Moskauer Zeitzone realisiert.

 

Der Konflikt um die Krim hätte somit bereits Mitte der 1990er-Jahre eskalieren können, zumal Russland und die Ukraine damals ohnehin schon zerstritten waren, weil sie die Schwarzmeerflotte lange nicht untereinander aufteilen konnten. Die zuletzt knapp zwei Millionen Einwohner auf der Halbinsel fügten sich dem Gang der Geschichte mehr oder weniger widerwillig. Aber auf der Krim gab es viele Gelegenheiten zu spüren, dass die Menschen dort mit der Ukraine fremdelten. Die Tochter einer westukrainischen Bekannten wurde beim Ferienaufenthalt auf der (ukrainischen) Krim im Laden von den Verkäuferinnen heruntergeputzt, weil sie dort Ukrainisch statt Russisch sprach. Letztlich hatten die Verantwortlichen in beiden Staaten aber damals genügend Verstand, die Lage unter Kontrolle zu halten

 

Vom Maidan zum Beitritts-Referendum

Das gilt für die Zeit nach dem blutigen Kiewer Maidan-Umsturz nicht mehr, als Putin seinem Militär den Befehl gab, die Übernahme der Krim vorzubereiten und abzusichern. Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf den Uniformen brachten die strategisch wichtigen Orte unter ihre Kontrolle und setzten zugleich die ukrainischen Truppen auf der Krim in ihren Kasernen fest. Dass es nicht zu einem Blutbad kam, ist wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, dass die ukrainischen Offiziere sich einem vom Kiewer Übergangspräsidenten Oleksandr Turtschynow erteilten Schießbefehl widersetzten (Bericht u.a. bei "Gordon", Russisch, Ukrainisch) und kampflos abzogen oder gleich die Seiten wechselten.

Ihren Anspruch auf die Krim stützt die russische Führung seit 2014 auf das Ergebnis eines Referendums, bei dem sich offiziellen Angaben zufolge weit über 90 Prozent der Teilnehmer für den Beitritt zur Russischen Föderation aussprachen. Die Volksabstimmung entsprach freilich weder ukrainischen Gesetzen, noch irgendwelchen Standards für eine faire Wahl, da sie völlig überstürzt und unter höchst dubiosen Umständen angesetzt worden war und Anhänger eines Verbleibs bei der Ukraine keine Chance hatten, für ihre Position zu werben. Korrespondenten-Kollege André Ballin, der das Geschehen damals für den österreichischen "Standard" vor Ort beobachtete, gab dennoch zu bedenken: "Allerdings wäre auch bei einem demokratischen Referendum ein Ergebnis zugunsten eines Russland-Beitritts hochwahrscheinlich. Die meisten Menschen auf der Krim fühlen sich nun mal als Russen und sind daher zufrieden mit dem Ergebnis." Mehr noch: Einer Gallup-Umfrage (Englisch) zufolge ging 2014 sogar eine Mehrheit von knapp 60 Prozent der ethnischen Ukrainer auf der Krim davon aus, dass sich ihr Leben nach der Inbesitznahme der Region durch Russland verbessern werde. 

Glaubt man den Verlautbarungen der russischen Führung, dann ist die Frage, wem die Krim gehört, für alle Ewigkeit entschieden. Doch die Mehrzahl der Staaten weltweit ist entschieden anderer Meinung - wie in der mit großer Mehrheit beschlossenen UN-Resolution 68/262 zum Ausdruck kommt, in der das Referendum für ungültig erklärt und die Annexion ohne Wenn und Aber verurteilt werden. Selbst das mit Putins Russland eng verbündete Weißrussland erkannte die Einverleibung der Krim mehr oder weniger offiziell erst 2021 nach langem Zögern an (Bericht Lenta.ru, Russisch).

 

Die Krim - ein Wurstbrot?

Zugleich war eigentlich allen politisch Verantwortlichen klar, dass der rechtswidrig herbeigeführte Zustand sich gegen den Willen der Menschen vor Ort auch nicht mehr einfach zurückdrehen lassen würde - so, wie auch in anderen umstrittenen Regionen wie Nordzypern oder im Kosovo. Auch deshalb fand selbst die russische Anti-Putin-Opposition, die die Krim-Annexion verurteilte, keine einheitliche Antwort, wie sie sich das weitere Schicksal der Halbinsel vorstellte. Einige brachten eine Wiederholung des Krim-Referendums ins Spiel, darunter der mehrfache Präsidentschaftskandidat Grigori Jawlinski (seine Positionen zur Krim-Problematik stellte der in der Ukraine geborene Sozialliberale auf einer eigens eingerichteten Webseite dar). Dabei müssten dann international übliche Standards eingehalten werden. Auch der mittlerweile inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sprach sich ursprünglich dafür aus, die Übernahme der Krim auf diese Weise nachträglich zu legitimieren. "Ist die Krim etwa ein Wurstbrot, das man einfach so hin- und herreichen kann?"  erteilte er in einem Interview mit dem Sender "Echo Moskaus" (Aufzeichnung bei Yandex.Video, Russisch) Forderungen nach einer Rückgabe an die Ukraine eine klare Absage. Mittlerweile hat er seine Haltung revidiert. In einem Anfang 2023 aus der Haft gesandten politischen Manifest erklärt Nawalny, Russland müsse wieder die Grenzen der Ukraine von 1991 anerkennen (Bericht Meduza, Russisch), alle Truppen abziehen, Entschädigung für die Kriegsschäden zahlen und die Ukraine dann "in Ruhe lassen".

 

Russlands Angriff auf die Ukraine und die massive westliche Militärhilfe haben auch die Haltung der Regierung in Kiew grundlegend geändert. Zwischenzeitlich hatten die politisch Verantwortlichen dort offenbar schon jede Hoffnung verloren, die Region noch einmal zurückzugewinnen. Stattdessen unternahm Kiew alles Mögliche, um seinen abtrünnigen früheren Bürgern das Leben schwer zu machen - etwa mit Verkehrsblockaden und der gekappten Süßwasserversorgung über den Nord-Krim-Kanal. Schließlich ließen Sprengstoffanschläge auf die Hochspannungsleitungen, die die Krim mit Strom aus der Ukraine versorgten, dort 2015 im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgehen (Bericht z.B. Welt Online). Die Herzen der Krim-Bewohner konnte Kiew so natürlich nicht zurückgewinnen. 

Seit Mitte 2022 gibt der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenski nun die Losung aus, die Ukraine werde die Krim in jedem Fall zurückerobern. Nach anfänglichem Zögern wird dieses Ziel mittlerweile zumindest in öffentlichen Erklärungen auch von den westlichen Sponsoren der Ukraine und vielen westlichen Militärs mitgetragen (Bericht z,b. beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland RND). Angriffe auf Ziele auf der Krim mit westlichen Waffen halten die Lieferanten für legitim.

Auch darüber, was mit den Bewohnern der Halbinsel geschehen soll, gibt es schon konkrete Ideen. Selenskis Bevollmächtigte für die Angelegenheiten der Krim, Tamila Taschewa, stellte bereits Pläne für die Vertreibung von Russen von der Halbinsel vor, deren Verbleib ein dauerhaftes Sicherheitsrisiko darstellen würde (Z.B. in einem Gastbeitrag für die Ukrainska Prawda, Ukrainisch). In Deutschland schrieb der Politologe Carlo Masala, einer der vermutlich radikalsten Vertreter der hiesigen Kämpfen-bis-zum-Endsieg-Fraktion, in einem später gelöschten Tweet: "Fluchtwege müssen offen bleiben, aber die Situation auf der Krim muss für die dortige Bevölkerung unerträglich gemacht werden." Derzeit kann niemand wissen, wann und wie der Krieg in der Ukraine endet und wie es mit der Krim weitergehen wird, aber eines steht fest: Die Wetterprognose für den paradiesischen Zankapfel im Schwarzen Meer und alle, die dort leben, lautet weiterhin auf Sturm.

(kp, aufgeschrieben am 19.3.2023)


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