Leere Bankautomaten, leere Läden

Im August 1998 brach das russische Finanzsystem zusammen, weil die Regierung die unter Boris Jelzin aufgehäuften Schulden nicht mehr bedienen konnte. Es folgte ein ziemliches Durcheinander. Und ich war damals mitten drin:

Moskau (August 1998)
. Das letzte Jahr meines Moskauer Wirtschaftsstudiums begann äußerst spannend. Nicht, dass sich am bescheidenen Niveau der Vorlesungen etwas geändert hätte. Auch mit dem Nebenjob wollte es nicht recht klappen. Die Deutschgruppe an der privaten Sprachschule, an der ich abends unterrichtete, war mangels Beteiligung aufgelöst worden. Aber dramatisch war etwas ganz anderes: Der Start ins Studienjahr fiel mitten in die fatale Rubelkrise. 

 

Als die russische Regierung die Staatsschulden nicht mehr bedienen konnte, brach binnen weniger Wochen die gesamte Volkswirtschaft zusammen. Der Staatsbankrott war lange absehbar gewesen, Milliardenkredite zur Stabilisierung des russischen Rubels wirkungslos an der Devisenbörse vernichtet worden. Mein Schwiegervater, der in einem Moskauer Rüstungswerk arbeitete, hatte seit über einem halben Jahr kein Gehalt mehr erhalten. So war es Millionen Menschen ergangen.

 

Kinderüberraschungs-Premier verkündet den Staatsbankrott

 

Boris Jelzins junger Premierminister Sergej Kirijenko, genannt "Kinderüberraschung", verkündete am 17. August 1998 den Staatsbankrott, anschließend brach das Chaos in Moskau aus: Weil das Geld so schnell an Wert verlor, es aber auch keine Devisen mehr zu kaufen gab, sahen die meisten Moskauer nur noch einen Ausweg: Sie stürmten die Läden, Boutiquen und versuchten, ihre Ersparnisse noch schnell in einen Kühlschrank, eine Waschmaschine oder wenigstens einen Fernseher einzutauschen. Nicht nur der Supermarkt neben unserem Hochhaus war in Kürze bis auf das Nudelregal und die Kartoffeln leergekauft. Leere Läden - so etwas hatte ich seit 1991 nicht mehr in Russland gesehen.

 

Die Stimmung in Moskau erinnerte an den Vorabend des Weltuntergangs. Entlang der Twerskaja Straße schlossen die Läden reihenweise "aus technischen Gründen" - die Verkäufer schafften es nämlich nicht mehr, schnell genug alle Preisschilder auszuwechseln. Manche beschlossen auch einfach, das Ende der Wansinnstage abzuwarten und verriegelten deshalb die Eingangstüren.

Der Rubel verlor so schnell an Wert, dass einige Bekannte - ich war schließlich unter lauter Ökonomen - sich auf ungewöhnliche Weise ein stattliches Sümmchen dazuverdient haben sollen: Sobald eine Wechselstube den Rubelkurs ein weiteres Mal herabgesetzt hatte, kauften sie die Scheine und liefen damit ein paar Straßen weiter zum Zurücktauschen zu einer anderen Wechselstube, die die Kurse noch nicht angehoben hatte. Ein riskantes Geschäft, alles kam auf Geschwindigkeit an. 

 

Viele Menschen verloren in diesen Tagen auch noch die letzten Ersparnisse. Relativ gelassen konnten wir das Geschehen verfolgen. Ausnahmsweise wachte ich jeden Morgen mit einem Gefühl großer Dankbarkeit für meine deutsche Bank auf, bei der mein Geld in harter Währung sicher aufgehoben war. 

 

Wechselstuben-Marathonlauf

 

Aber auch mein deutsches Konto nutzte mir schon bald nicht mehr viel: Unsere Bargeldvorräte gingen unaufhaltsam zur Neige. Einen Großteil des Tages verbrachte ich statt im Hörsaal in der Innenstadt - auf der Suche nach einem Bankautomaten, aus dem man mit ausländischer Karte noch einige Scheine ziehen konnte. Ein ziemlich sinnloses Unterfangen war das zeitweise. So sinnlos, wie die verzweifelten Versuche der Moskauer, ihre Konten noch rechtzeitig zu räumen, bevor deren Wert ins Bodenlose gestürzt war. Oder, noch schlimmer, bevor die Bank das Zeitliche gesegnet hatte. Mit viel Glück fand ich schließlich eine Bank, deren EC-Automaten zwar wie überall sonst bereits abgeschaltet waren, deren Mitarbeiter jedoch einige Reise-Schecks von mir annahm, als ich mich durch den Belagerungsring der geprellten Anleger hindurchgekämpft hatte. Die wütenden Sparer fanden es gar nicht witzig, dass da einem einzeln jungen Kerl noch Geld ausgezahlt wurde, und kurz bekam ich es regelrecht mit der Angst zu tun.
 

Das letzte Moskauer Studienjahr Jahr wurde durch die Ereignisse auch zum günstigsten. Die Studiengebühren der Lomonossow-Universität waren zwar in US-Dollar angegeben, mussten aber in Rubel bezahlt werden, zum "offiziellen Kurs" für Verrechnungszwecke, den die Zentralbank jeden Tag für den nächsten Tag festlegte. Am folgenden Nachmittag war dieser Wechselkurs allerdings in der Regel längst von der Wirklichkeit überrollt worden. Wer Dollar oder Mark in der Tasche hatte, konnte sie schon zu wesentlich besseren Bedingungen in Rubel wechseln. Ich sparte mehrere hundert DM.


Mehr skurrile Erlebnisse aus einer aufregenden Zeit in Russland sind hier nachzulesen:


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