Unser Reise an die türkische Schwarzmeerküste via Sotschi liegt schon lange zurück. Allem Anschein nach gibt es aber bis heute keine gescheite, annähernd
zivilisierte Fährverbindung zwischen beiden Ländern. Sogar das alte Schiff ist 2017 noch immer im Einsatz.
Trabzon/ Sotschi (Juni 2005). Eigentlich trennt nur eine nächtliche Fährpassage die russische Schwarzmeerküste von Kleinasien.
Schiffsreisende zwischen den Kontinenten brauchen dennoch viel Geduld. Die Fähren verkehren ohne Fahrplan, aber angeblich mindestens zwei Mal in der Woche. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob eine
Überfahrt in den schuhkartongroßen Kajüten 75 Dollar pro Liege wirklich Wert sind.
Schlapp hängt die Flagge des Königsreichs Kambodscha über die Ladeluke. Auf dem Autodeck herrscht gähnende Leere. Inzwischen hat es sich herumgesprochen: Heute wird das rostige Fährschiff "MF Erke" nicht mehr nach Sotschi in See stechen sondern über Nacht im Hafen von Trabzon vor Anker liegen.
Morgen werde es ganz bestimmt Richtung Russland gehen, sagt ein dicker türkischer Matrose. "Wirklich?" Die Gegenfrage bringt ihn aus dem Konzept: "Niemand weiß es", sagt er knapp und dreht sich um.
Keine Abfahrtszeit auf dem Ticket
Um 17 Uhr sollten die Passagiere zur Pass- und Zollkontrolle in den Hafen kommen, hatte es beim Ticketkauf geheißen. Um 20 Uhr hätte die "Erke" Richtung Sotschi ablegen sollen.
"Ohne Fracht lohnt sich die Überfahrt nicht, der alte Pott frisst viel zu viel Öl", meint Jewgeni, der in Dubai "für einen Bekannten" zum Schnäppchen-Preis von 25.000 Dollar einen nagelneuen
Toyota-Jeep gekauft und ihn tausende Kilometer durch die Wüste bis nach Trabzon gefahren hat. Die ersten Passagiere begreifen, warum auf dem Ticket keine Abfahrtszeit verzeichnet war.
In der Menschenmenge am Kai kursieren wilde Gerüchte: Ein Lkw-Konvoi für die Fähre sei irgendwo im anatolischen Hochland steckengeblieben, heißt es. Die Indizien sprechen freilich für eine zweite, noch beunruhigendere Version: Dass außer der "Erke" auch die sieben anderen, größeren Fährschiffe im Hafen festgetäut sind, die normalerweise zwischen Trabzon und Sotschi verkehren, liege an einem Import-Verbot für türkische Tomaten, dass die Russen erlassen haben sollen.
Zoll nach Hause gegangen
Immerhin können alle Fahrgäste ihr Gepäck der Bequemlichkeit halber schon an Bord bringen. Zollkontrollen gibt es nicht, denn die Beamten sind nach Hause gegangen, als sie hörten, dass die "Erke"
im Hafen bleibt. An den Sicherheits-Vorkehrungen hat sich in Trabzon nicht viel geändert, seit im Januar 1996 eine Gruppe schwer bewaffneter Tschetschenen die Fähre "Avrasya" kaperte und über 200
meist russische Passagiere vier Tage lang als Geiseln hielt.
Weil so viele leere Fähren - alle unter den Flaggen von Ländern wie Kambodscha oder Nordkorea - im Hafen liegen, organisiert die Reederei auf einem der
Schiffe zumindest für alle Passagiere ein Bett für die Nacht. Um acht Uhr morgens sollen alle zurück zur Passkontrolle, um sich einen Ausreisevermerk in den Pass stempeln zu lassen.
Duty Free Shop lässt die Rolläden wieder runter
Am Morgen verzögert sich die Abfertigung zunächst nur um eine Stunde. Um neun Uhr setzt sich dann schließlich ein Grenzer in sein Abfertigungshäuschen und die metallenen Rolläden des Duty-Free-Shops werden hochgezogen. Sein Gepäck hat niemand mehr vom Schiff zurückgebracht, aber den Zoll interessiert es nicht.
Die Passagiere drängeln sich um die vorderen Plätze in der Warteschlange. Viel zu früh, wie sich bald herausstellt: Um 9:05 Uhr wird im Duty-Free-Shop wieder das Licht ausgeknipst und die Grenzer zucken mit den Schultern. "Wir würden euch gerne abfertigen, aber die Reederei will nicht."
Dann gehen sie Tee trinken. Zwölf Uhr sei die neue Abfertigungszeit, heißt es. Um 15 Uhr werde das Schiff ablegen. Um 14 Uhr können endlich alle Passagiere die Passkontrolle passieren. Von
einem Laster werden gerade per Gabelstapler dutzende Tomatenkisten auf die "Erke" umgeladen. "Hier sind die Tomaten wichtiger als die Menschen", schimpft Valeri, der in zweieinhalb Wochen per
Anhalter aus Moskau über die Türkei und Syrien bis nach Ägypten getrampt war und auf der Rückreise in Trabzon hängen blieb.
Wenig später kommt noch ein Schwerlaster voller Tomaten, aber er passt nicht durch die Heckklappe der Fähre. Erst, als die Luft aus allen Reifen gelassen wird, lässt sich das Fahrzeug Zentimeter für Zentimeter an Bord schieben.
Bei Seenot Tomaten zuerst
Es ist ein kurioses Häufchen Passagiere, das auch um 17 Uhr noch darauf wartet, endlich in See zu stechen: Türkische Bauarbeiter mit erschwindelten russischen Touristenvisa, zwei Dutzend
russische Prostituierte mit erschwindelten, abgelaufenen türkischen Touristenvisa, eine Großfamilie russischer Zirkusartisten, in den Orient ausgewanderte Russinnen, deren Kinder sich in einer
Arabisch-Türkisch-Kurdisch-Russischen Mischmasch-Sprache miteinander unterhalten.
"Wenn der Kahn heute Nacht sinkt, werden sie auch zuerst die Tomaten retten - und danach vielleicht uns", meint Valeri mit einem sorgenvollen Blick zu den Regenwolken über dem Schwarzen
Meer.
Mit 22 Stunden Verspätung sticht die „Erke“ um 18 Uhr in See, Gischt spritzt auf das Deck, manche Russinnen verlieren den Kampf gegen die Übelkeit. Im Bordrestaurant gibt es Spagetti ohne Soße für einen Dollar die Portion, doch viele Nudelteller werden nicht bestellt an diesem Abend. Auf dem Sonnendeck betet ein Mann Richtung Mekka. Drinnen in der Bar schließen die abgeschobenen Prostituierten erste Bekanntschaft mit den türkischen Bauarbeitern.
Die Kommission könnte durchdrehen
Nach einer Nacht in den harten, zerschlissenen Sitzen, im Fahrschein kurioserweise als "Pullmann-Sessel" bezeichnet, tauchen morgens am Horizont die Berge des Kaukasus auf. "Die Mannschaft sagt, das ist Trabzon", scherzt Valeri. Niemand lacht.
In Sotschi kommt die "MF Erke" am Vormittag mit 26 Stunden Verspätung an. Aber die Reise zwischen den Kontinenten ist noch lange nicht
vorbei, denn nun kann die Fähre, die viel zu tief im Wasser liegt, nicht mehr anlegen.
Die Heckklappe liegt wegen des Tomatenlasters so tief unter der Anlegestelle, dass sie erst nach einer Stunde mühsamer Manövrierarbeiten geöffnet werden kann. Anschließend verhindern schwer
bewaffnete Grenzer, dass irgendjemand der Passagiere russischen Boden betritt.
Die Fahrgäste stehen im Nieselregen an Deck und warten. "Eine russische Kommission muss erst die Fähre abnehmen", sagt ein Matrose zur Erklärung. "Und versperrt bloß nicht den Eingang, sonst kommt die Kommission, kriegt einen Koller und geht einfach wieder." Jedenfalls sitzen die russischen Hafen-Offiziellen anderthalb Stunden lang mit dem Kapitän im Bordrestaurant der "Erke". Welche Fragen sie klären müssen, bleibt für die Außenstehenden ein Rätsel.
Jewgeni sitzt voller Seelenruhe derweil in seinem Toyota-Jeep und kann die Hektik der anderen nicht verstehen. Er überführt im Schnitt einmal in der Woche ein Auto aus dem Nahen Osten nach
Russland und kennt alles und jeden auf der Route. "Ich kann den Wagen sowieso erst übermorgen verzollen", sagt er gelassen.
Plötzlich gibt ein Grenzer das Zeichen, dass alle von Bord gehen können und nun gibt es kein Halten mehr. Nur noch fünf Pass- und Gepäckkontrollen – und Russland ist endlich erreicht.