"Unbeschränkte Macht in den Händen beschränkter Menschen führt immer zu Grausamkeit."

 

Alexander Solschenizyn (1918-2008), russischer Schriftsteller

 

 

Auf Abwegen oder abgetaucht

Russlands politische Elite in Kriegszeiten

Festakt zur Aufnahme der vier annektierten ukrainischen Verwaltungsgebiete Donezk, Lugansk, Saporoschje und Cherson in die Russische Föderation
Versammelte russische Elite im Kreml (Foto: kremlin.ru)

Russlands Angriff auf die Ukraine vor einem Jahr hat tiefe Spuren auch im Gefüge des russischen Machtapparats hinterlassen. Wo einst vielfach der Widerstreit um die Gunst des Staatschefs

zwischen Hardlinern aus dem Sicherheitsapparat und den Top-Funktionären der Wirtschafts- und Finanzbehörden  die politische Agenda prägte, zählt in Zeiten der endlosen "Spezialoperation" nur noch bedingungslose Treue. Das Ringen um Russlands Weg in die Zukunft (oder treffender: in die Vergangenheit) ist, so wie es aussieht, vorerst entschieden. Aber auch zahlreiche Vertreter der "Machtelite" haben sich in den zurückliegenden Monaten verändert - so sehr, dass man sich in manchen Fällen verblüfft die Augen reiben muss. 

Die Journalistin Farida Rustamowa, die in ihrem lesenswerten Blog "Faridaily" (Englisch, Russisch) weiterhin regelmäßig aus dem Innenleben der russischen politischen Elite berichtet, zitierte ihre anonymen Quellen bereits im Herbst damit, echte Befürworter des Ukraine-Krieges gebe es im Regierungsapparat nur wenige. Putins Entscheidung, die vier Gebiete Donezk, Lugansk, Saporoschje/Saporischje und Cherson zu annektieren, habe sogar viele in einen regelrechten Schockzustand versetzt. Allerdings gebe es nach außen keine sichtbaren Anzeichen für Uneinigkeit, keine öffentliche Kritik, keine Rücktritte: "Im Gegenteil helfen diejenigen, die wenigstens innerlich Putins Vorgehen nicht mittragen konnten, ihm jetzt dabei, die Wirtschaft an einen langen Krieg anzupassen, die verheerenden Folgen für die Bevölkerung Russlands abzumildern und damit die Zustimmung zur Staatsführung zu sichern."

Tatsächlich hat lediglich eine Handvoll von Vertretern der politischen Führung still den Rückzug angetreten, und man darf mutmaßen, dass auch ihre Haltung zum Ukraine-Krieg dabei eine Rolle spielte. Ende 2022 legte Alexej Kudrin, zuletzt Chef des russischen Rechnungshofs, als einer der letzten reformorientierten Politiker sein Amt nieder und wechselte als Berater zum Internet-Konzern Yandex (Bericht u.a. Kommersant, Russisch). Innerhalb des russischen Establishments gibt es jedoch bislang niemanden, der versuchen würde, mäßigend aufzutreten oder sich gar mit konstruktiven Vorschlägen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs und der Dauerkonfrontation mit Amerikanern und Westeuropäern vorwagen würde. Beides wäre in der aktuellen Situation vermutlich auch gleichbedeutend mit dem Ende der politischen Karriere.

Was es hingegen sehr wohl gibt, sind führende Staatsbeamte, die versuchen, sich mit nationalistischen und kriegerischen Äußerungen gegenseitig zu überbieten. Über ihre Motive kann man nur spekulieren.

"Ich hasse sie, sie sind Bastarde und Missgeburten"

Am augenscheinlichsten in diesem Zusammenhang ist die Verwandlung von Dmitri Medwedjew. Als er 2008 nach Putins ersten beiden Amtszeiten von diesem das Präsidentenamt übernahm, hing ihm auch unter manchen Kreml-Gegnern der Ruf an, so etwas wie ein Liberaler zu sein, obwohl er nie einer war. Dass er sein erstes Zeitungs-Interview nach Amtsantritt ausgerechnet der damals bereits bedrängten oppositionellen "Nowaja Gaseta" gab, werteten viele als hoffnungsvolles Zeichen. Mit Aussagen wie dem berühmt gewordenen Statement "Freiheit ist besser als Unfreiheit" (s. z.B. Rossiskaja Gaseta-Bericht, Russisch) blieb Putins ansonsten eher blasser Statthalter manchen in Erinnerung.

In seiner aktuellen Position als stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates hat Medwedjew sich zum Einpeitscher gewandelt und seinen offiziellen Telegram-Kanal (ich verlinke lieber nicht, am Ende ist das noch justiziabel) zu einer Schleuder für verstörende Hassbotschaften umfunktioniert. "Irre" oder "blutige Clowns" sind noch nicht die schlimmsten Schimpfwörter, die er Russlands Widersachern dort entgegenschleudert. Die ukrainische Absage an eine Feuerpause während des orthodoxen Weihnachtsfestes kommentierte er beispielsweise mit den Worten: "Schweine kennen weder Glauben, noch Dankbarkeit." Nicht nur westliche, sondern auch russische Medien haben Medwedjews neue Rolle als russisch-imperialer Hetzer mit Befremden zur Kenntnis genommen. Der einstige Hoffnungsträger begründete seine Ausfälle mit seiner tief sitzenden Abneigung gegen alle Kräfte, die sich Russland entgegenstellen: "Ich hasse sie. Sie sind Bastarde und Missgeburten. Sie wünschen uns, Russland, den Tod. So lange ich lebe, werde ich alles dafür tun, dass sie verschwinden." (Zitiert nach RBK, Russisch).

  

Ein anderer Politiker, der einst dem Lager der "Liberalen" zugerechnet wurde, aber längst auf ganzer Linie Putins Politik stützt, ist Sergej Kirijenko, der unter Boris Jelzin zur Gruppe der "Jungreformer" zählte und Russland 1998 mit gerade einmal 35 Jahren als Kurzzeit-Premier (Spitzname "Kinderüberraschung") in die Staatspleite geführt hatte. Obwohl er danach Mitbegründer der oppositionellen wirtschaftsliberalen "Union Rechter Kräfte" wurde, war er schon während Putins erster Amtszeit wieder in den Staatsdienst gewechselt, und leitete unter anderem viele Jahre lang die russische Atombehörde. Nach seinem Wechsel in die russische Präsidentenverwaltung war er dort schon vor dem Angriff auf die Ukraine für die Politik gegenüber den einseitig ausgerufenen Volksrepubliken im Donbass zuständig. Auch dieser Ex-Liberale trommelt neuerdings mit aller Kraft für den russischen Sieg über die Ukraine und die Nato. Die Liste ließe sich fortsetzen.

 

Schirinowskis Nachfolger bringen sich in Stellung

Auch einer von Russlands dubiosesten Wirtschaftsmagnaten drängelt sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor einem Jahr immer stärker auf die politische und mediale Bühne, wählt dabei aber einen anderen Weg: Es ist noch nicht lange her, da verklagte der als "Putins Koch" bekannt gewordene Catering-Unternehmer Jewgeni Prigoschin Journalisten, die ihn mit dem privaten Militärunternehmen Wagner in Verbindung brachten. Inzwischen posiert er nicht nur mit seinen Wagner-Kämpfern in der Ostukraine für Fotos, sondern er legt sich auch ganz offen mit den Befehlshabern aus dem russischen Generalstab an.  Im Februar 2023 sorgte er für einen handfesten Eklat, als er den Moskauer Generälen vorwarf, den Wagner-Truppen kaum noch Munition zu liefern.

Schon orakeln Medien, der 61-Jährige könnte mit seiner Privatarmee und seinen Medienunternehmen selbst ins Rennen um die Putin-Nachfolge einsteigen, z.B. bei ZDF.de: "Prigoschin und seine Privatarmee sind gefährlich wie nie. Vielleicht sogar für Putin."  Dass der bullige Oligarch höhere Ambitionen hat, ist durchaus glaubhaft, allerdings fehlen ihm zumindest bislang nennenswerter Rückhalt in der Bevölkerung und - was viel wichtiger ist - eine Hausmacht in einem der Kreml-Türme. Viel wahrscheinlicher ist daher, dass für Prigoschin die frei gewordene Rolle des 2022 verstorbenen rechten Polit-Irrwichts Wladimir Schirinowski eingeplant ist: Die des lauten Polterers, der einerseits ganz im Sinne der Führung vor unpopulären Maßnahmen die öffentliche Meinung austestet, und andererseits die konservative, aber eben nicht fanatisch nationalistische Mehrheit der Russen an Putin bindet, weil die von ihm verkörperte Alternative so grässlich erscheint. Denn jemanden, der Hinrichtungsvideos verbreitet und Abtrünnigen damit droht, "Wagners Vorschlaghammer" werde ihnen den Schädel einschlagen, möchte letztendlich doch nur eine Minderheit in einem hohen Staatsamt sehen.
 

Einen treuen Verbündeten fand der Multimillionär dabei in Tschetscheniens Republik-Oberhaupt Ramsan Kadyrow, der den eigenen Militärs schon vor Monaten vorwarf, sie würden in der Ukraine gewissermaßen mit angezogener Handbremse Krieg führen (und dabei auch schon dem Einsatz taktischer Atomwaffen das Wort redete). Auch Kadyrow strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Auch er genießt das Privileg, den Kurs der Moskauer Führung von einer noch militanteren Richtung aus kritisieren zu dürfen. Denn er weiß, dass sein brutales Regiment in Tschetschenien den Kreml vor potentiell riesigen Problemen im traditionell unruhigen Nordkaukasus bewahrt. Das macht ihn schon seit Jahren gewissermaßen unantastbar.

 

Nur nicht auffallen

Noch viele andere Vertreter der russischen politischen Führungskaste heizen den Krieg und die Auseinandersetzung mit dem Westen beharrlich an. Zu nennen wäre beispielsweise der Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin, der alle, die Kritik am Kriegskurs äußern, als Verräter abstempelt (Bericht z.B. Kommersant, Russisch) oder Russlands Chefdiplomat Sergej Lawrow, der bei seinen verbalen Attacken gegen die "Angelsachsen" und deren Verbündete ebenfalls alle diplomatische Zurückhaltung beiseite gelegt hat.  

 

 

Allerdings gibt es in Putins Russland eine Gruppe von Regierungs-Funktionären, die versuchen, möglichst nicht mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung gebracht zu werden. Prototyp dieser Einstellung war zumindest in der Anfangsphase des Krieges Moskaus mächtiger Bürgermeister Sergej Sobjanin, der sich - wie es das oppositionelle Online-Portal Medusa hübsch formulierte, "in die Arbeit in seiner Stadt eingegraben hat". Zu einem Solidaritätsbesuch im russisch kontrollierten Teil des Donbass habe ihn Putins Präsidenten-Administration regelrecht zwingen müssen, berichtete Medusa. Statt mit hurrapatriotischen Äußerungen aufzufallen, setzt der Stadtchef darauf, dass die Bewohner der Hauptstadt trotz Krieg und Wirtschaftskrieg ihr relativ komfortables Leben möglichst ungestört weiterleben können, solange sie unpolitisch bleiben. Er eröffnet am liebsten neue Metro-Stationen und Entlastungsstraßen. Eine zukunftsträchtige politische Agenda ist das freilich auch nicht.

kp, aufgeschrieben am 23.2.2023


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