Populist, Medienstar, Märtyrer

Zum Tod von Alexej Nawalny

Navalny in einem seiner Enthüllungs-Videos, Screenshot: Navalnys Youtube-Kanal
Navalny in einem seiner Enthüllungs-Videos, Screenshot: Navalnys Youtube-Kanal

Wenn es so etwas gibt wie das Ende der Welt, dann könnte es in sich in der Siedlung Charp in Nordwest-Sibirien befinden. In der Sprache des Nomadenvolkes der Nenzen ist Charp das Wort für "Polarlicht", die russische Justiz verschickt in die dort befindlichen Straflager die schlimmsten Verbrecher - Massenmörder, Mafiapaten, Terroristen. Ende 2023 wurde auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hinter den Polarkreis verbracht, nach einem weiteren Prozess, der ihn für immer von der politischen Bühne Russlands beseitigen sollte. Nun ist Nawalny tot, er wurde 47 Jahre alt. Die russische Polizei nimmt regierungskritisch gesonnene Russen fest (Bericht z.B. Fontanka.ru), die Blumen stellvertretend an den Denkmälern für die Opfer des Stalin-Terrors niederlegen, westliche Politiker überbieten sich mit zornigen Statements. Und die russische Führung tut so, als habe sie nichts mit allem zu tun.

Letzteres ist reichlich bigott, denn natürlich war nicht nur die russische Justiz für Nawalnys Wohlergehen verantwortlich, sondern - weil es sich um einen politischen Gefangenen handelte - auch die politische Führung. "Der Verurteilte A. A. Nawalny fühlte sich nach einem Spaziergang unwohl und verlor fast sofort das Bewusstsein", teilte die Gefängnisleitung am 16. Februar in einer Presseerklärung mit (zitiert nach Tass-Meldung, Russisch), die sich innerhalb von Minuten um die Welt verbreitete. Herbeigeeilte Ärzte hätten ihn nicht mehr retten können. Viele im Westen und in der russischen Anti-Putin-Opposition sprechen von Mord. Und ob der Rechtsanwalt und Gründer der mittlerweile von den russischen Behörden als extremistisch verbotenen "Stiftung zum Kampf gegen die Korruption" in dem abgelegenen Straflager tatsächlich auf Anweisung getötet wurde (eher unwahrscheinlich) oder die elenden Haftbedingungen am Polarkreis und immer neue Karzer-Strafen wegen angeblicher Regelverstöße seine Gesundheit ruinierten (durchaus wahrscheinlich), ist dabei letztlich zweitrangig. Nawalnys Tod ist so oder so ein weiteres Menetekel für Russland.

 

Selten waren derartig überschwängliche Nachrufe zu lesen und zu hören wie im Fall des international wohl bekanntesten russischen Oppositionellen. "Märtyrer des Guten" titelte die FAZ in einem KommentarUnd für den russischen Exil-TV-Sender "Doschd" ist Nawalny nicht einfach nur ein Held, sondern eine Ausnahmegestalt, wie sie "nur einmal in 100 Jahren geboren wird", eine Figur von "biblischem Ausmaß", die " in unserer Zeit den Berg Golgatha erklommen hat". Nawalny käme, so soll man das wohl verstehen, also gleich an zweiter Stelle nach Jesus Christus. Wer sich für ein realistisches Bild des Putin-Gegners interessiert, kann im österreichischen "Standard" die Einschätzungen des Russland-Experten Gerhard Mangott nachlesen. Nawalny sei eine mutige, charismatische Persönlichkeit gewesen: "Er konnte mobilisieren, das zeigt die öffentlich bekundete Trauer in Russland. Im Westen wurde der Oppositionelle dennoch oft überschätzt."

Auch die dunklen Seiten Nawalnys werden dabei nicht ausgeblendet, etwa sein Einstieg in die Politik bei der sozialliberalen "Jabloko"-Partei, die ihn schon bald wegen rechtsradikaler Einstellungen wieder rauswarf. Sein menschenverachtendes Video mit der Forderung nach freiem Waffenbesitz, in dem er Kaukasier mit Kakerlaken verglich, und seine Teilnahme an den "Russischen Märschen" Seite an Seite mit Ultranationalisten und russischen Neonazis, passen nicht zum Bild des Vorzeigedemokraten.

Wahr ist aber auch, dass Nawalny sich seit mindestens zehn Jahren keine extremistischen Entgleisungen mehr leistete. Als er 2013 trotz einer frischen Verurteilung in einem dubiosen Untreueprozess bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen antreten durfte, war ich begeistert von den vielen hochmotivierten jungen Leuten an den Navalny-Werbeständen überall in Moskau. Die Heerscharen von Freiwilligen waren definitiv keine Rechtsradikalen, sondern normale Moskauer, die einfach nur in einer zivilisierten, europäischen Metropole leben wollten. Nawalny selbst blieb allerdings auch nach dem Verzicht auf extreme rechte Töne ein Populist durch und durch. In Erinnerung blieb etwa seine Ankündigung, er werde nach einem Wahlsieg als neuer Bürgermeister "alle" Beamten der Moskauer Stadtverwaltung feuern.

 

Millionenpublikum sind nicht Millionen Wähler

Aber eigentlich war dem Oppositionellen das Moskauer Oberbürgermeisteramt wahrscheinlich von Anfang an zu klein. Er sah sich - obwohl er niemals ein Regierungsamt bekleidete - als einzigen legitimen Nachfolger von Kreml-Herrscher Putin. Und auch das ist möglicherweise ein Teil der Erklärung von Nawalnys Tragödie. Zwar fand er mit seinen Attacken auf die korrupte russische Elite ein dankbares Millionenpublikum, aber nur eine sehr kleine Minderheit konnte sich vorstellen, ihn deswegen auch in das höchste Staatsamt zu wählen. Selbst bei fairen Wahlen hätte er keine echte Chance auf einen Einzug in den Kreml gehabt. Der verbissene Kampf Putins gegen Nawalny, dessen Name Russlands Staatschef niemals aussprechen wollte, hat seine Ursache daher - anders als oft suggeriert - wohl weniger in der Angst vor einer Machtübernahme durch den smarten Anwalt. Die eigentliche Gefahr für die Staatsspitze waren Nawalnys fortlaufende Enthüllungen über Auslandskonten, Paläste und sonstige Reichtümer der Elite.


Und auf diesem Feld konnte niemand Nawalny und seinem Team das Wasser reichen: Seine hochprofessionell und zugleich humorvoll produzierten Anti-Korruptionsvideos (Russisch mit Untertiteln) erzielten teilweise über 40 Millionen Aufrufe. Nawalnys Stiftung recherchierte akribisch, ehe sie mit neuen Materialien über Unrecht und Vetternwirtschaft an die Öffentlichkeit ging. Die Reputation vieler Putin-Getreuer wurde durch Nawalnys Arbeit nachhaltig zerstört. Die von ihm geprägte Betitelung der Staatspartei "Einiges Russland" als "Partei der Gauner und Diebe" wurde gar zu einem geflügelten Wort in Russland. Das System hat ihm das nicht verziehen: Immer neue Strafverfahren, Durchsuchungen, Festnahmen und Hausarrest waren die Folgen. Nawalnys Versuche, eine eigene Partei zu gründen, wurden vom Staatsapparat sabotiert.

 

Von seiner Mission überzeugt beging Alexej Nawalny im Januar 2021 einen vermutlich fatalen Fehler. Nach der Genesung von den Folgen der Vergiftung entschloss er sich zur Rückkehr aus Deutschland, wohin er zur medizinischen Behandlung ausgeflogen worden war. Dabei drohte ihm in Russland bereits die Umwandlung einer Bewährungs- in eine reale Haftstrafe. Nawalnys Heimreise in Begleitung unzähliger Reporter und Kameraleute endete vorzeitig, aber leider auch vorhersehbar auf dem Moskauer Flughafen mit einer Festnahme an der Passkontrolle. Es war sein letzter Tag in Freiheit. Für seinen Mut, um der Sache Willen ohne Rücksicht auf das eigene Leben in den Flieger nach Moskau zu steigen, zollten auch viele, die sonst nichts von Nawalny hielten, ihm höchsten Respekt.

 

Freiheit für Assange: Der Westen kann jetzt beweisen, dass er besser ist

Die westlichen Demokratien überlegen nun nach dem Tod des russischen Oppositionspolitikers, welche neuen Anti-Russland-Sanktionen sie noch einführen könnten. Dabei könnten sie, namentlich Briten und Amerikaner, auch die Chance nutzen zu beweisen, dass sie im Umgang mit politischen Gefangenen besser sind als Putins Russland - und endlich die Freilassung von Julian Assange veranlassen. Der Australier verrottet seit Jahren in einer britischen Zelle, in den USA drohen ihm weit über 100 Jahre Haft, weil er Kriegsverbrechen der USA aufgedeckt hat. Die Chancen für einen Sinneswandel stehen allerdings schlecht. Denn westliche Werte werden auch im Westen immer weniger gelebt und viel häufiger geheuchelt.

Nawalnys Witwe Julia hat unterdessen kurz nach dem Tod ihres Mannes angekündigt, dessen Kampf gegen Putin fortzusetzen. "Ich bitte Euch, meinen Zorn und meinen Hass auf diejenigen zu teilen, die es wagten, unsere Zukunft zu ermorden", sagte sie im Youtube-Kanal ihres Mannes. Sie wäre nicht die erste Frau eines getöteten Politikers, die dessen Weg fortsetzt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz erhielt sie von den anwesenden Gästen kurz nach Bekanntwerden der Todesnachricht stehenden Beifall. Ob sie vom Exil aus auch eine nennenswerte Zahl der Russinnen und Russen auf ihre Seite bringen kann, bleibt aber fraglich.

 

kp, aufgeschrieben am 20.2.2023


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