Geraune im Dienste der Kriegstüchtigkeit

Auch Qualitätsmedien bieten beim Thema Russland oft ein jämmerliches Bild

Flugroute des Von-der-Leyen-Jets. Screenshot: flightradar24.com
Flugroute des Von-der-Leyen-Jets. Screenshot: flightradar24.com

Sogar für die Frankfurter Allgemeine Zeitung waren die technischen Probleme eines Charterjets mit der EU-Kommissionspräsidentin an Bord das wichtigste Thema des Tages: "Russischer Störangriff auf Flugzeug von der Leyens vermutet", titelte das Blatt Anfang September. Der Fall ist leider längst typisch für die Berichterstattung deutscher Medien. Wenn es um Russland geht, werden die Handwerksregeln des Journalismus auch von eigentlich seriösen Medien schon geradezu systematisch zur Seite gelegt. Geraune ersetzt seriöse Recherche. Vermutungen werden solange wiederholt, bis man sie zu Fakten verklären kann. Journalisten kleben dubiosen Pseudo-Experten an den Lippen. Das Problem besteht seit vielen Jahren. Doch in Zeiten, in denen in Europa ein Krieg tobt, der nach wie vor den ganzen Kontinent erfassen könnte, ist es besonders gefährlich. 

"Der Skandal ist, dass jeder noch so kleine Vorfall genutzt wird, um eine feindliche, fast schon kriegerische Stimmung gegen Russland zu schüren. Und dass die EU nichts unternimmt, um diese Stimmungsmache einzudämmern – im Gegenteil", schreibt der stets lesenswerte EU-Blog "Lost in Europe". Auch Medien wirken leider, statt zu informieren, zuweilen daran mit, die Bevölkerung im Sinne der ausgerufenen Kriegstüchtigkeit aufzuhetzen.

 

Der Vorfall im Himmel über Plowdiw ist schnell erzählt: Von der Leyen wollte in Bulgarien eine Munitionsfabrik inspizieren, beim Landeanflug trat an Bord der Maschine eine GPS-Störung auf. Die EU-Kommission teilte unter Berufung auf bulgarische Quellen mit, der Vorfall sei auf eine "unverhohlene Einmischung Russlands" zurückzuführen. Medien weltweit griffen die Meldung auf. Der Pilot habe eine Stunde lang in der Luft bleiben müssen und danach nur manuell mit Hilfe analoger Karten laden können, berichtete tagesschau.de in einem Beitrag, der noch Tage später so unverändert im Netz steht. Drohungen und Einschüchterungen seien ein regelmäßiger Bestandteil von Russlands feindlichem Vorgehen, wird darin eine Kommissionssprecherin zitiert.

 
Tatsächlich kreiste der Leyen-Jet keineswegs eine Stunde orientierungslos über Plowdiw, die Landung erfolgte mit nur wenigen Minuten Verspätung. Bulgariens Verkehrsminister Grosdan Karadschow erklärte, es gebe keine Belege für eine gezielte Störattacke (Bericht: Bulgarian News Agency BTA, Englisch). Zu einem ähnlichen Fazit war auch das Fachportal flightradar24 gekommen, das Interessierten die Möglichkeit bietet, Flugbewegungen weltweit in Echtzeit zu verfolgen. Von dem perfiden hybriden Angriff der Russen auf die Chefin der EU-Kommission blieb zunächst nicht viel übrig. Dass unzählige Berichte über den Leyen-Flug nach Bulgarien, die das Gegenteil nahelegen, ebenso wie die Empörungs-Tweets deutscher Politiker weiter ohne jede Klarstellung im Netz stehen, ist symptomatisch.

 

Feindbilder befeuern

Zu den in Westeuropa gepflegten Narrativen gehört die Überzeugung, Russland führe mit Propaganda und Desinformation einen "hybriden Krieg" gegen den Westen. Aus diesem Grund wird der Zugriff auf zahlreiche russische Medien auch in Deutschland blockiert, in Staaten wie Lettland sind die Zensurmaßnahmen sogar noch viel weitreichender. Tatsächlich zeichnen insbesondere staatliche russische Medien ein groteskes Zerrbild von den Zuständen im Westen und im eigenen Land. 

Insbesondere, seit Russland im Westen wieder als größter Feind gesehen wird, finden sich nahezu alle Propaganda- und Desinformations-Elemente, die man zurecht de russischen Seite vorwerfen muss, auch in deutschen Medien. Wer sich Anne Morellis zehn "Prinzipien der Kriegspropaganda" ausdruckt und mit den Berichten der vergangenen Tage zum Ukraine-Krieg und dem neuen Russland-Nato-Konflikt abgleicht, kann das problemlos nachvollziehen. Die verbreitete Überzeugung, dass die "gegnerische Seite" ihrem Publikum mit bösartiger Absicht den Kopf vernebelt, während den deutschen Qualitätsmedien allenfalls gelegentlich, zutiefst bedauerliche Fehler unterlaufen, ist schon lange nicht mehr haltbar. 


Für den Leipziger Kommunikationswissenschaftler Uwe Krüger ("Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen") ist die Ukraine-Krise nicht weniger als der Katalysator für das mittlerweile weit verbreitete Misstrauen in die etablierten Medien. Er schrieb bereits 2016 "Tatsächlich hat der deutsche Medien-Mainstream in der Ukraine-Frage nicht nur ein sehr enges Meinungsbild präsentiert. Es gab auch eine Reihe von Falschinformationen, falschen Bebilderungen und vernachlässigten Fakten, die alle in dasselbe Muster passten." 

Die zutiefst einseitige Auswahl von Talkshow-Gästen zum Themenkomplex Russland ist dabei noch das geringste Übel. Die auffallende Schlagseite bei der Gewichtung von Ereignissen steht der auf der "gegnerischen Seite" in vielen Fällen kaum noch nach: Regierungskritische Proteste im (vermeintlich) prorussischen Georgien erfahren ungleich mehr Aufmerksamkeit als regierungskritische Demonstrationen im prowestlichen Moldawien oder beim Nato-Mitglied Bulgarien. Und Opfer russischer Bomben sind seit jeher in den Augen vieler Nachrichtenmacher ungleich beklagenswerter als die Opfer amerikanischer oder israelischer Angriffe.

 

Schlimmer noch: Geht es um Russland, spielen Fakten oft keine Rolle mehr. Noch die albernsten Gerüchte, abgeschrieben von irgendeinem drittklassigen Presseorgan, schaffen es ungeprüft in die Titelzeilen. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 steht die russische Wirtschaft fortlaufend vor dem Zusammenbruch, die russischen Soldaten mussten aufgrund von Munitionsmangel schon mit Feldspaten kämpfen (t-online und unzählige andere), und natürlich ist Putin seit vielen, vielen Jahren sterbenskrank, zumindest bei t-online, bei Focus, Bild und vielen, vielen anderen. Russland steckt hinter allem Bösen in der Welt, hinter Trump, hinter der Flüchtlingskrise, hinter jedem Stromausfall in der westlichen Hemisphäre.

Nicht nur Krawall-Medien wie die Bild, auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist in den vergangenen Jahren immer wieder aus der Rolle gefallen. Das Mainzer ZDF hat nie wirklich aufgearbeitet. was bei einer dubiosen, unglaublich einseitigen Dokumentation mit dem Titel "Machtmensch Putin" von 2015 falsch gelaufen ist. Eigentlich spricht alles dafür, dass Teile des Berichts mit einem vermeintlichen russischen Freiwilligen im Donbass-Krieg schlicht und ergreifend erfunden worden waren (Ausführlich bei Stern.de). Wozu aber Aufklärung, wo doch jeder weiß, dass Russen von Beginn des Bürgerkriegs in der Ostukraine gegen die Kiewer Regierungstruppen gekämpft haben. Wer soll sich schon über ein paar gefälschte Bilder aufregen, wenn die Kernaussage doch stimmt?

 

Gefährliche Echokammern

Tatsächlich lässt sich in der Russland-Berichterstattung ein Echokammer-Effekt beobachten, wie er sonst bei radikalisierten Social-Media-Nutzern beklagt wird. Viel zu oft suchen sich einseitig berichtende und kommentierende Journalisten die passenden Experten, die ihre Weltsicht bestätigen und auch Falschmeldungen immer weiter kursieren lassen. So schleifen sich fragwürdige Narrative immer tiefer ein, etwa die immer wieder aufs Neue wiederholte Erzählung vom angeblichen russischen Überfall auf Georgien 2008 (Fakten dazu im Abschlussbericht einer internationalen Untersuchungskommission der EU um Heidi Tagliavini, Englisch) und zum blutigen Umsturz auf dem Maidan in Kiew 2014. Dass Spezialeinheiten der damaligen Janukowitsch-Regierung damals das Feuer auf die prowestlichen Demonstranten eröffneten, ist eine auch in deutschen Medien weiterhin gepflegter Mythos, während die vorliegenden Fakten eine Verantwortung radikaler Aufständischer extrem plausibel erscheinen lassen (was vor allen den hartnäckigen Untersuchungen des kanadisch-ukrainischen Forschers Ivan Katchanovski zu verdanken ist).

Zu pseudojournalistischem Geraune und Fakes kommt gelegentlich ganz offene Kriegspropaganda: Da gab es etwa jene berühmt-berüchtigten Ausgabe der Logo!-Kindernachrichten, in der drollige animierte Marschflugkörper und ein Leopard-Panzer sich 2024 darüber empörten, dass die "Taurus"-Lieferungen in die Ukraine nicht endlich starteten (Bericht z.B. Telepolis). "Dem Olaf Scholz müssten wir Marschflugkörper mal ordentlich den Marsch blasen", hieß es da in der kindgerecht aufbereiteten Agitation. Im ZDF-Fernsehrat, in dem Vertreter aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen sitzen, fand sich später nicht ein einziges Mitglied, das in dem unsäglichen Stück einen Verstoß gegen Programmrichtlinien erkennen konnte.

 

Das Elend der Russland-Berichterstattung wird noch dadurch wesentlich vergrößert, dass immer weniger Journalisten vor Ort tätig sind. Und dass die, die noch in Moskau akkreditiert sind, nicht mehr wirklich im Land herumkommen - von der russischen Seite der Fronten des Ukraine-Krieges ganz zu schweigen. Als das ZDF 2024 ausnahmsweise einmal seinen Moskau-Korrespondenten Armin Coerper mit Kamerateam in das von Russland annektierte Mariupol schickte, ergoss sich sofort ein gewaltiger Sturm der Empörung über Sendeanstalt und Journalisten (S. Bericht Berliner Zeitung) - nicht nur aus den Reihen proukrainischer Aktivisten sondern auch von anderen Berufskollegen.

 

Klischees und Meinungsmache

Man kann das Niveau der medialen Darstellung Russlands ein Stück weit auf den Ukraine-Krieg schieben, in dem Moskau weiß Gott große Schuld auf sich geladen hat. Die Art und Weise, wie Putin seine Macht zementiert hat und mittlerweile Andersdenkende jeder Art die Luft abgedrückt wird, bieten selbstverständlich massenhaft Anlass für härteste Kritik. Doch Klischees und Meinungsmache dominieren die Berichterstattung aus dem größten Land der Welt  schon länger. Bereits vor 25 Jahren war es so, dass viele Deutsche, die längere Zeit in Russland lebten, das Land aus den Berichten deutschsprachiger Zeitungen und Fernsehnachrichten kaum wiedererkannten.


Das Interesse deutscher Redaktionen kreiste schon damals um wenige ausgewählte Themen. In den Jahren um 2000, als ich begann, als freier Journalist aus Moskau zu berichten, gab es Interesse an Straßenkindern, Mafia, Elend und ein wenig auch an russischen Kriegsverbrechen in Tschetschenien. Die schwere Krise, in die das Land gestürzt war, hatte stereotype Vorstellungen hervorgebracht, die es zu befeuern galt. Das Publikum, so die offenbar verbreitete Vermutung, will Bestätigung, nicht Verwirrung durch neues Wissen und unbekannte Aspekte. Zu mangelndem Interesse gesellten sich uralter, nach 1945 in West-Deutschland kultivierter russenfeindlicher Rassismus und die Selbstgewissheit, dass nur der Westen den Russen erklären könne, wie sie ihr rückständiges Land zu reformieren hatten.

 

Schon damals gab es Situationen, in denen die Berichterstattung sich in großem Stil von den Fakten löste. Beispielhaft genannt sei ein weiterer Vorfall aus der Luftfahrt -  die Flugzeugkatastrophe am Bodensee, wo im Sommer 2002 eine Tupolew-Chartermaschine der russischen Bashkirian Airlines in der Luft mit einem DHL-Frachtflugzeug zusammengestoßen war. Viele Zeitungen scherten sich damals einen Dreck darum, was wirklich geschehen war - gedruckt wurden lange Berichte über schrottreife russische Flugtechnik und sogar Spekulationen über möglicherweise versoffene russische Piloten im Cockpit. Tatsächlich war, wie wir heute wissen, das Unglück durch eine Kette schwerer Versäumnisse bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide verursacht worden.

 

Und schon vor 25 Jahren - damals wütete im Kaukasus der zweite Tschetschenienkrieg - sorgte ein deutscher Moskau-Korrespondent mit Fake-News für ordentlich Furore. Im Frühjahr 2000 präsentierte der N24-Mann Bilder vermeintlicher Gräueltaten der russischen Truppen an Tschetschenen - Aufnahmen von Leichen, die Spuren von Folterungen und Hinrichtungen aufgewiesen hätten, selbst aufgenommen im Kriegsgebiet . Tatsächlich hatte ein russischer Kriegsreporter getötete tschetschenische Kämpfer gefilmt (Bericht z. B. Washington Post, Englisch) und anschließend die Aufnahmen verschiedenen westlichen Korrespondentenbüros zum Kauf angeboten, auch unserem. Die dreiste Lüge des deutschen Kollegen, an der N24 zu unserer großen Verwunderung noch tagelang festhielt, hatte allen westlichen Korrespondenten vor Ort Ärger eingebracht, denn die Berichterstattung aus der Kriegsregion wurde danach noch schwieriger.

 

Was damals jedoch letztlich noch zum fristlosen Rauswurf des Korrespondenten bei seinem deutschen Arbeitgeber führte, wäre heute vermutlich eine lässliche Sünde. Viele Menschen fühlen sich inzwischen falsch oder zumindest lückenhaft informiert - und springen aus einem Extrem in das andere. Dass so viele mittlerweile selbst ernannten alternativen Medien mehr vertrauen als den etablierten, kann aber keine Lösung sein. Sich aus Ärger über Meinungsmache und Propaganda der Meinungsmache und Propaganda mit anderem Vorzeichen zuzuwenden, ist zumindest eine denkbar schlechte Strategie.

 

kp, aufgeschrieben am 6.9.2025

 


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