Millionen Menschenleben, ein verwüsteter Kontinent, Flüchtlingsmassen, ganze Völker traumatisiert - vor 80 Jahren, am 8. und 9. Mai, konnten die Alliierten dem von Deutschen ausgegangenen Zweiten Weltkrieg an den europäischen Fronten ein Ende setzen. Das nationalsozialistische Deutsche Reich war besiegt und musste bedingungslos kapitulieren. In der Sowjetunion hatten die Deutschen in ihrem Rassenwahn besonders barbarisch gewütet. Wohl über 27 Millionen Kriegstote zählte das Land. Der Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in der ehemaligen UdSSR genannt wird, blieb auch in den meisten Nachfolgestaaten einer der wichtigsten Feiertage. 80 Jahre später zeigen Europas Staatenlenker deutlich, dass sie aus der Geschichte eben doch nicht so viel gelernt haben. Das Gedenken an das Kriegsende wird mancherorts zur peinlichen Scharade.
Längst spaltet nicht nur das Datum des Kriegsendes wieder einstige Verbündete und Feinde: Bereits am 7. Mai 1945 hatte der Nazi-Generaloberst Alfred Jodl im alliierten Hauptquartier in Reims die Kapitulationsurkunde unterzeichnet, deren Bestimmungen einen Tag später in Kraft treten sollten. Auf Forderung der Sowjetunion, die in den letzten Kriegswochen einen Separatfrieden zwischen Westmächten und Deutschem Reich fürchtete, wurde die Zeremonie in der Nacht auf den 9. Mai kurz nach Mitternacht in Berlin-Karlshorst wiederholt. Auch dort wurde rückwirkend besiegelt, dass die Kampfhandlungen am 8. Mai um 23.01 Uhr eingestellt werden mussten. Zu diesem Zeitpunkt hatte in Moskau wegen der unterschiedlichen Zeitzonen bereits der neue Tag begonnen.
60 Jahre nach Kriegsende, im Mai 2005, saß der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder noch als Ehrengast bei den Siegesfeiern auf dem
Roten Platz in Moskau. Eine nachhaltige Versöhnung zwischen den einstigen Kriegsgegnern schien möglich -
zumal es trotz der allgegenwärtigen Erinnerung an den Weltkrieg in Russland nie Hass gegenüber normalen Deutschen gab. Inzwischen schwadronieren deutsche Politiker wie der CDU-Scharfmacher und
Talkshow-Liebling Kiesewetter darüber, der Ukrainekrieg müsse mit deutschen Waffen "nach Russland getragen werden" und machen sich öffentlich Gedanken über mögliche Angriffsziele - so
als hätte es die 27 Millionen toten Sowjetbürger nie gegeben.
Beim öffentlichen Gedenken in Deutschland stören die ehemalige Sowjetunion, ihr entscheidender Beitrag zum Kriegsende und die erlittenen Opfer. Auch das war einst anders.
Noch 2014 hielt der russische Schriftsteller Daniil Granin im Deutschen Bundestag eine bewegende Rede, in der er schilderte, wie die Deutschen drei Millionen Menschen im belagerten Leningrad zu
Tode hungern wollten. Ledergürtel, Tapetenleim, Katzen und Hunde - "Unvorstellbares diente als Nahrung", berichtete der Kriegsveteran und beklagte, so viele seiner Kameraden seien mit
einem Gefühl der bevorstehenden Niederlage gestorben, ohne zu ahnen, dass das Nazi-Reich letztlich doch scheitern würde.
2025 hat die Polizei nun für Gedenkfeiern am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park Polizei kurzerhand nicht nur das Zeigen russischer, sondern auch sowjetischer
Flaggen verboten. Ebenso untersagt wurden das Mitbringen sowjetischer Orden und das Singen von Militärliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs (Bericht RBB). In einer letzten Volte unter der
irrlichternden Ministerin Baerbock verschickte das Auswärtige Amt zudem eine Aufforderung an alle offiziellen Stellen, bei öffentlichen Gedenkfeiern keine Vertreter Russlands und
Weißrusslands zu dulden oder gar einzuladen und bei deren unangekündigtem Erscheinen vom Hausrecht Gebrauch zu machen. "Ein Land, das täglich Dutzende Menschen in einem brutalen Krieg töten
lässt, hat beim Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges nichts verloren", pflichtete der Historiker Hubertus Knabe bei (Gastbeitrag Focus.de).
Erinnerung an die Befreiung ohne Befreier ist die Devise auch anderenorts: Von den Feierlichkeiten zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen
sind Vertreter Russlands, des Rechtsnachfolgers der Sowjetunion, schon seit vielen Jahren ausgeschlossen (S. Bericht Euronews). Immerhin regte sich mancherorts
Widerspruch gegen die jüngsten "Handlungsempfehlungen" aus Berlin. "Es kann doch nicht Ziel von Diplomatie sein, einen Botschafter vor die Tür zu
setzen", verweigerte Friedemann Hanke, CDU-Politiker und Vizelandrat des Kreises Märkisch-Oderland, im Vorfeld des Gedenkens an die Schlacht auf den Seelower Höhen den Gehorsam (Bericht RBB). Selbst der frühere
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) rüffelte die Verantwortlichen für das Empfehlungsschreiben (S. z.B. ZDF.de).
Diejenigen Staats- und Regierungschefs, die sich im Mai 2025 trotz des Ukrainekriegs zu den Gedenk- und Siegesfeierlichkeiten nach Moskau aufmachten, sahen sich ebenfalls ungeahnten Problemen
ausgesetzt: Nicht nur sorgten massive ukrainische Drohnenattacken für ein komplettes Chaos im Luftraum um die Moskauer Flughäfen. Die östlichen EU-Staaten verboten sogar
Regierungsmaschinen den Überflug über ihr Territorium. Von den Schikanen seiner baltischen EU-Partner war selbst der slowakische Ministerpräsident Robert Fico betroffen (S. Bericht
Berliner Zeitung). Der Slowake hatte zuvor als einziger EU-Regierungschef gegen massiven Druck aus Brüssel entschieden, nach Moskau zu fahren, musste aber letztlich mehrere
Tausend Kilometer Umweg auf sich nehmen (Normalsterbliche kennen das).
Aus russischer Sicht ist die Bedeutung des Sieges im Zweiten Weltkrieg in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen, sieht sich Moskau doch, den öffentlichen Verlautbarungen nach zu
urteilen, auch in seinen Angriff auf die Ukraine in einer angeblich ähnlichen Rolle, wie einst die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler und seine Verbündeten. Bei meiner ersten Moskau-Reise nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 fiel beim ersten Einkauf im örtlichen Supermarkt als allererstes ein riesiges Plakat mit
Weltkriegsbanner und der Aufschrift "Sie haben gesiegt! Wir werden siegen!" ins Auge.
Dabei betont der Kreml zugleich das gemeinsame Verdienst aller Völker der ehemaligen Sowjetunion. Die "Ruhmestaten und riesigen Opfer der Väter und Großväter" gelte es, im
Herzen zu behalten, appellierte Putin in einem Glückwunschschreiben, das an die Präsidenten der verbündeten Staaten Mittelasiens und der Kaukasus-Region sowie "an die Bevölkerung
Georgiens und der Republik Moldau" adressiert war (Zitiert
nach kremlin.ru, Russisch).
Die Prioritäten der Putin-Führung zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland liegen eindeutig auf der für Ausländer martialisch wirkenden Waffenschau statt auf dem stillen Gedenken an
gefallene Angehörige und den Glückwünschen an die letzten überlebenden Veteranen und Zeitzeugen. Regierungsnahe russische Medien (z.b. Gazeta.ru,
Russisch) berichten bereits im Vorfeld in aller Ausführlichkeit, welche ausgefeilten
neuen Mordmaschinen bei der Siegesparade über den Roten Platz rollen werden: Modernisierte Kampfpanzer Typ T-90M "Proryw" ("Durchbruch") etwa oder die Selbstfahrende Artillerieeinheit
"Malve". Militärexperten diskutierten leidenschaftlich, ob Russlands Armee wohl auch die berüchtigte Hyperschallrakete "Oreschnik" zeigen werde.
Doch all das Säbelrasseln zum Tag des Sieges gefällt längst nicht allen Russen. "Die Praktik, Kinder in Armeeuniformen des Zweiten Weltkriegs zu stecken (mit Schulterklappen und
Auszeichnungen) und Kindergarten-Militärparaden zu veranstalten, wäre mit Sicherheit in meiner eigenen, zutiefst sowjetischen Kindheit als als grenzenloser Frevel, als vulgäre
Niedertracht und Geschmacklosigkeit gewertet worden", kritisierte der Publizist und Bibelexperte Andrej Desnizki in seinem Telegram-Kanal (Russisch). "Jeder Bericht jedes echten Kriegsveteranen meiner Kindheit hatte das eine zentrale Thema: Krieg ist unvorstellbarer Schrecken,
wir haben ihn überlebt, damit ihr das nie wiederholen müsst."
Noch deutlicher wurde der oppositionelle Schriftsteller Sergej Medwedjew. Der "Tag des Sieges" am 9. Mai habe Züge eines "religiösen Kults" angenommen, schrieb er bereits 2022
in einem Beitrag für das Internetmagazin "Cholod" (Russisch): "In
Putins Russland hat der Tag des Sieges eine eine schwindelerregende Entwicklung durchgemacht. Aus einem "Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er noch zu Beginn des Jahrhunderts war, entwickelte
er sich zu einer militärisch-patriotischen Show – einer gigantischen Symbolmaschine, die sich das Land unterwarf."
Auch rührende Formen der Erinnerung werden in Russland dem patriotischen Zeitgeist untergeordnet, etwa die Aktion "Unsterbliches Regiment". Ursprünglich als zivilgesellschaftliche Initiative in Sibirien entstanden, zogen ab 2012 in immer mehr Städten
Russlands und der ehemaligen Sowjetunion am 9. Mai Menschen mit Fotos ihrer Väter, Großväter und anderer Angehöriger durch die Straßen, die im Krieg gekämpft hatten. Der Ideengeber
Sergej Lapenkow sprach später davon (Bericht Nowaja Gaseta Jewropa, Russisch), das "Unsterbliche Regiment" sei bald einer "feindlichen
Übernahme" durch offiziöse Strukturen zum Opfer gefallen. Kritiker warfen den Behörden vor, Beschäftigte des Staatssektors würden zwangsweise zur Teilnahme verpflichtet. Die Aktion sei
Propagandazwecken untergeordnet worden.
"Nie wieder Krieg" - das war die zentrale Lehre aus dem Horror des Zweiten Weltkriegs. Die Menschen in Ost und West haben darauf vertraut, dass die Mächtigen sie nach 1945 beherzigen würden. Auch, weil die Schrecken jenes weltumfassenden Krieges noch überall präsent waren, schafften KP-Chef Nikita Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy es 1962, die Kubakrise friedlich beizulegen und der Erde einen Dritten Weltkrieg vorerst zu ersparen. Dass die Prämisse von 1945 vom Tisch gefegt werden konnte, zeigt leider auch den begrenzten Nutzen von Gedenkakten und Gedenktagen. "Nie wieder ist jetzt", das gilt nicht mehr. "Nie wieder" ist irgendwann später einmal. All das ist ist in höchstem Maße geschichtsvergessen und nur schwer erträglich.
Das ahnt auch die Partei des Krieges in Ost und West. Und deshalb greift sie - verstärkt seit 2022 - zum einzigen Mittel, das ihr bleibt: Der Gleichsetzung des Gegners mit
Nazi-Deutschland und der gegnerischen Anführer mit Hitler, dem menschgewordenen Teufel. Wer dies tut, beweist noch mehr, dass er nichts verstanden hat. Putins Russland ist kein
neues NS-Reich, auch, wenn die Führung in Moskau mit ihrem Angriff auf die Ukraine 2022 unverzeihliche Schuld auf sich
geladen hat. Es dennoch zu behaupten, erst recht, wenn Deutsche sich dazu versteigen, ist eine beschämende Verharmlosung der monströsen Nazi-Verbrechen und eine Verhöhnung
aller Holocaust-Opfer, der KZ-Häftlinge, der zu Tode geschundenen Zwangsarbeiter und der versklavten Völker Europas. Umgekehrt gilt das genauso, wenn Russland - und manche Putin-Freunde im
Westen - den Krieg in der Ukraine damit rechtfertigen, in Kiew herrsche ein "Nazi-Regime". Nicht zuletzt die Lebensleistung russischer und ukrainischer Soldaten in ihrem gemeinsamen Kampf gegen
die deutsche Barbarei wird damit verhöhnt.
Dass derartige Narrative überhaupt so viel Zustimmung finden, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass auch 80 Jahre nach Kriegsende noch immer so viele weiße Flecken im nationalen
Bewusstsein der Völker Europas fortbestehen. Als ich 1994 mit Abitur das westdeutsche Gymnasium verließ, wusste ich vermeintlich alles über die NS-Gewaltherrschaft - und doch so gut wie
nichts über die Leningrader Blockade oder die unzähligen Konzentrationslager auf dem Gebiet der besetzten UdSSR, deren Gefangene nie von den Deutschen entschädigt wurden. Die Mehrzahl
der Deutschen hat sich nie wirklich für das Ausmaß der Verbrechen interessiert, dass ihre Vorfahren bei ihrem Vernichtungskrieg im Osten zu verantworten hatten.
Meine russischen Freunde kennen oft nur die strahlende Geschichte der letztlich siegreichen Roten Armee. Von der brutalen Einverleibung der baltischen Länder, der kollektiven Deportation der
Russland-Deutschen und anderer Minderheiten oder der Vertreibung der Zivilbevölkerung aus Ostpreußen redet das offizielle Russland selten oder nie. In den Nationen zwischen Deutschland und
Russland, die mehrfach nacheinander zum Opfer wurden, gab es derweil nie eine umfassende und ehrliche Aufarbeitung der eigenen Kollaborationsgeschichte. Mit dem Ergebnis, dass die letzten
lebenden SS-Schergen im Baltikum oder in der Westukraine von vielen wie Nationalhelden behandelt werden.
Dabei besteht kein Zweifel, dass diese Ewiggestrigen einst auf der falschen Seite der Geschichte standen - und die Rotarmisten, die den Hitler-Wahnsinn gemeinsam mit den Soldaten vieler
anderer Länder unter unvorstellbaren Opfern niederkämpften, auf der richtigen. Es gäbe so unendlich viel zu tun für Historiker, auch nach 80 Jahren.
kp, aufgeschrieben am 8. Mai 2025