"Wenn es nun Gott nicht gibt, wer, möchte ich wissen, lenkt dann die Geschicke des Menschen und überhaupt dieser Welt?"
Woland in "Meister und Margarita"
Auf den ersten Blick sind es Elemente, die kaum zusammen passen: Die biblische Jesus-Geschichte aus der Sicht des römischen Statthalters Pontius Pilatus, die tragische Liebe eines vom System in den Wahnsinn getriebenen Schriftstellers zu seiner Muse und der Besuch des Teufels höchstpersönlich in der Sowjetunion. Und dennoch hat der russische Schriftsteller Michail Bulgakow (1891-1940) genau damit das erzählerische Fundament für einen der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts gelegt. Die atemberaubende Entstehungsgeschichte des Textes, der erst 30 Jahre nach dem Tod des Autors erstmals veröffentlicht wurde, hat nicht wenig zu seinem Kultstatus beigetragen. Die aufwendig produzierte Verfilmung unter der Regie von Michael Lockshin wurde 2024 in Russland zum Kassenschlager und schaffte es ein Jahr später auch in die deutschen Kinos.
"Meister und Margarita" ist eine unübertroffene Abrechnung mit der Realität der Stalin-Despotie. Und nicht wenige Leser erkennen auch Parallelen zur Gegenwart, obwohl die Handlung
im Moskau der 1930-er Jahre spielt:
Der Satan höchstpersönlich besucht die Hauptstadt des kommunistischen Reiches in Gestalt des "Professors für schwarze Magie" Woland. Nach der Ankunft macht er sich mit teuflischer
Freude daran, den Sowjetbürgern ihren Glauben an die Allmacht von Fortschritt und den staatlich verordneten Atheismus auszutreiben und das unverändert spießbürgerliche Wesen der
Sowjetgesellschaft und die Feigheit der Funktionäre bloßzustellen. Mit seinem skurrilen Gefolge, unter ihnen der sprechende Riesenkater Behemoth, mischt er die Hauptstadt auf. So manche, die
sich ihm entgegenstellen, verlieren den Verstand oder mehr. Schließlich feiert Woland als Höhepunkt der Visite in der Hauptstadt des Kommunismus seinen Satansball und erfüllt "seiner"
Moskauer Hexe deren Herzenswunsch. Dem Meister, einem verfemten Schriftsteller, ermöglicht er so ein Wiedersehen mit seiner großen Liebe Margarita. Der unter dem Druck des repressiven
Systems zerbrochene Literat hatte zuvor die Geschichte von Jesus und Pontius Pilatus so aufgeschrieben, wie sie ihm glaubwürdig erschien, damit jedoch staatliche Kulturfunktionäre
und die Zensur gegen sich aufgebracht. Das zuletzt 2014 von Alexander Nitzberg neu ins Deutsche übersetzte Werk (dtv-Taschenbuch, Neupreis 15€) sprudelt auf seinen rund 600
Seiten nur so von skurrilen Begebenheiten und grotesken Dialogen.
Das beginnt schon an einem schwülheißen Nachmittag beim Auftauchen des Teufels an den Moskauer Patriarchenteichen, wo der Literaturredakteur Berlioz und der Dichter Besdomny gerade über die
Arbeit an einem religionsfeindlichen Gedicht diskutieren. Als Woland sich zu ihnen setzt und sich in die Diskussion einmischt, rätseln die beiden anfangs, ob er
verrückt oder ein ausländischer Spion ist. Für Berlioz endet das Gespräch tragisch, als er unter eine herannahende Straßenbahn stolpert und ihm - wie vom Leibhaftigen vorhergesagt - dabei der
Kopf abgerissen wird.
Eine der Schlüsselszenen aus dem "Russischen Faust" liest sich wie eine Prophezeiung: "Manuskripte brennen nicht", raunt der Teufel dem verzweifelten Schriftsteller zu, der in einer Irrenanstalt sein Dasein fristet. Auch Bulgakow selbst hatte die erste Version seines Lebenswerks eigenhändig angezündet, nachdem er kurz zuvor erfahren hatte, dass ein von ihm verfasstes Theaterstück verboten worden war. Die letzte Fassung von "Meister und Margarita" diktierte er bereits sterbenskrank seiner Frau Jelena. Ihr gelang es erst viele Jahre nach Stalins Tod, eine Veröffentlichung des Manuskripts zu erreichen.
1966 erschien eine gekürzte Version der Geschichte in einer Moskauer Literaturzeitschrift, was dazu führte, dass der vergessene und verfemte Schriftsteller und Bühnenautor Bulgakow plötzlich
wieder in aller Munde war. "Meister und Margarita" wurde - um die zensierten Stellen ergänzt - tausendfach abgeschrieben, mit der Schreibmaschine abgetippt und auf nicht offiziellen Kanälen
weiterverbreitet. Bulgakows Wohnung der Bolschaja Sadowaja Straße, wo in dem Roman Wolands Spukgesellschaft Quartier macht, entwickelte sich zur Pilgerstätte für Literaturbegeisterte,
Systemgegner und Okkultisten. Das Treppenhaus wurde mit den Jahren durch unzählige Zeichnungen und Graffiti zum mystisch anmutenden Gesamtkunstwerk.
Auch viele Ausländer in Russland lieben "Meister und Margarita". Ich hatte das Buch erstmals Anfang der Neunziger Jahre in die Finger bekommen und begeistert gelesen, kurz, bevor ich zum ersten
Mal für längere Zeit nach Moskau reiste. Damals erlebte ich in der chaotischen Umbruchzeit so viele groteske Begebenheiten, dass mir der Roman gar nicht mehr wie Fantasy erschien, sondern
wie ein durchaus realistischer Bericht der russischen Lebenswirklichkeit.
Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche, die groteske Geschichte vom Teufel, dem Meister und seiner Margarita zu verfilmen - mit mäßigem Erfolg. Im Gegensatz dazu erhielt 2021 der noch kurz vor der Eskalation des Ukraine-Krieges gedrehte Film von Lockshin durchweg positive bis überschwängliche Kritiken, als er 2024 schließlich in die russischen Kinos kam. Selbst die Regierungszeitung "Rossijskaja Gaseta" lobte das Ergebnis (Filmkritik Russisch): "Alles in diesem Film, vom Drehbuch bis zum Schnitt, zeugt von großen Talenten, die als erste in unserem Kino den geheimnisvollsten russischen Roman gezähmt haben." Das liegt nicht nur an der Arbeit des Regisseurs, sondern in erster Linie an den Darstellern. Der Deutsche August Diehl ist wohl die Idealbesetzung des Woland. Aber auch Julia Snigir als Margarita, Jewgeni Zyganow als Meister, der Däne Claes Kasper Bang als Pontius Pilatus oder Dmitri Lyssenkow als biederer Literaturkritiker Latunski spielen ihre Rollen mehr als überzeugend. "Glücklich und völlig überrumpelt verlässt man nach zweieinhalb Stunden einen Film voll ungelöster Rätsel, wie ihn vielleicht auch Salvador Dalí hätte drehen können", befand der Kritiker der Frankfurter Rundschau.
Deutscher Trailer "Meister und Margarita"
Wer "Meister und Margarita" gelesen hat, mag sich mit dem Film etwas schwertun, weil dessen Handlung in vielerlei Hinsicht von der Romanvorlage abweicht. Die verschiedenen Erzählebenen
des Buches verschwimmen so sehr, dass am Ende auch die Helden der Handlung gar nicht mehr wissen, was literarische Fiktion und was filmische Realität ist. Und
auch das mit moderner Digitaltechnik erzeugte Moskau des Films ähnelt nur bedingt dem historischen Stadtbild der 1930-er Jahre, stattdessen vielmehr der utopischen Hauptstadt in den
kühnsten, nie komplett verwirklichten Träumen der sozialistischen Stadtplaner.
Nach dem Kinostart waren Realität und Fiktion noch schwieriger von einander zu trennen: Dem Film erging es ähnlich wie dem Roman: Dass sein überwiegend begeistertes Publikum ihn
jemals zu sehen bekam, grenzt an Magie. Kurz nach Abschluss der Dreharbeiten übte Regisseur Lockshin scharfe Kritik am russischen Einmarsch in der Ukraine, was ihn in den Augen der
Moskauer Staatsmacht zum Feind machte. Die üblichen russischen Pseudopatrioten erklärten den gesamten Film für Teufelszeug und forderten ein Verbot, ganz genau so wie die
albernen Kulturfunktionäre der Stalin-Zeit die Arbeit von Bulgakows "Meister" verrissen. Zwar hat die Produktion sogar Gelder der staatlichen russischen Filmförderung erhalten, doch
vom Anfang bis zum Ende wirkt sie, wie die "Nowaja Gaseta" treffend
feststellte (Bericht Russisch), wie ein "Manifest des Protestes und der ewigen Konfrontation zwischen liberaler Intelligenzija und totalitärer Staatsmacht". Hätten die Arbeiten
nur wenig später begonnen, wären sie wohl nicht mehr abgeschlossen worden.
"Wenn eine Systemkritik, die über 100 Jahre alt ist, immer noch greift, bedeutet das, dass das System sich nicht geändert hat", kommentierte Hauptdarsteller Diehl in einem
lesenswerten Interview mit der Berliner Zeitung. "Und vielleicht gibt es eine kleine Sehnsucht danach, dass der Teufel wieder vorbeikommt und alles durcheinanderwirbelt, sodass wir
wieder zu uns selbst finden."
kp, aufgeschrieben im Mai 2025